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Die Frau die nie fror

Die Frau die nie fror

Titel: Die Frau die nie fror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Elo
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Gebüsch zu schlittern, was wiederum kleine Steinlawinen auslöst.
    »Wo zum Teufel willst du hin?«, brüllt Parnell.
    »Muss was erledigen«, rufe ich zurück.
    »Was denn?«
    »Wirst du schon sehen.«
    Ich höre Martins und Parnells schwere Schritte auf dem Weg über mir. Mit etwas Glück schaffe ich es rechtzeitig. Ich renne zum Rand des Wassers, fange an, mich auszuziehen.
    »Was verdammt …?«, ruft Parnell. »Was machst du da?«
    »Schwimmen gehen!«, brülle ich zurück.
    »Bist du verrückt?«
    »Untersteh dich, mir zu folgen. Die Temperatur wird dich umbringen.«
    Ich plansche in das seichte Wasser, bahne mir den Weg durch tote Narwale, und als ich bis zur Taille drin bin, tauche ich. Das Wasser ist kalt. Aber nicht zu kalt. Ungefähr die gleiche Temperatur wie der Tank der NEDU . Was, wenn ich ehrlich bin, scheißkalt ist. Gierig atme ich ein, schlucke versehentlich Wasser, würge, huste, schnappe nach Luft und fange an zu schwimmen wie eine Verrückte auf der Flucht von Alcatraz. Ich habe ernsthaft Probleme, rede mir aber ein, es sei ein Klacks.
    Ich kann das Blut im Salzwasser riechen, und als ich den Arm zu einem Zug hebe, ist er von einem rosa schimmernden Film benetzt. Die Narwal-Körper stoßen gegen mich, weich und glatt, fest und merkwürdig elastisch. Ich gleite zwischen ihnen durch und wechsle in vorsichtiges Brustschwimmen, wenn es eng wird. Ich komme an leblosen Pupillen vorbei, so groß wie Vierteldollarmünzen, und riesigen gähnenden Mäulern, aus ­denen der Stoßzahn, eigentlich nämlich ein Vorderzahn, herausgehackt wurde. Als das Wasser tiefer wird, werde ich ein ­wenig langsamer, schone meine Kräfte und spüre etwas Großes neben mir, das mir wie ein Geist folgt, teils in meinem Kielwasser und manchmal auch unter mir. Ich sehe zurück und begreife, dass ich einen Begleiter habe: ein graues Kalb, das mit dem Kopf wippt wie ein Fohlen und nur doppelt so groß ist wie ich.
    Ich habe keine Ahnung, wie weit ich geschwommen bin oder wie weit es bis zum Netz ist. Ich habe den direkten Kontakt zu Händen und Füßen, zu den Augen und zur Hälfte meines Gehirns verloren. Wenn ich darüber nachdenke, was ich mache, verliere ich todsicher den Mut. Also tue ich’s einfach nicht. Ich mache einfach weiter meine Züge. Ich rede mit dem kleinen Wal. Ich frage ihn, ob er Geschichten mag. Ich denke solche absurden Dinge.
    Ich beginne zu spüren, dass die Wale um mich herum leben. Ihre Körper sind genauso weich wie die Kadaver, nur dass sie eine lebendige Körperspannung besitzen. Sie fühlen sich mehr nach Muskeln an statt nach Waltran. Können Wale wütend sein?, frage ich mich. Und ich muss an den Pottwal denken, der im neunzehnten Jahrhundert mit seinem gewaltigen Kopf mehrmals auf das Walfangschiff Essex eingeschlagen hat, bis er den genauen Spannungspunkt fand, der das ganze Schiff in mehrere Teile zerbrechen und schnell auf den Grund des Pazifiks sinken ließ. Was den jungen Herman Melville der­maßen tief beeindruckte, dass er sich an die Arbeit machte und uns Moby Dick schenkte. Diese Narwale, denen nachgesagt wird, dass sie sehr friedliche Tiere sind, könnten mich dennoch mit einer verträumten Rolle unter Wasser halten, bis ich ertrinke.
    Keine guten Gedanken, keine guten Gedanken , flüstere ich mir selbst zu und steigere das Tempo, bis meine Züge so schnell sind wie im YMCA , wenn ich die Latte noch etwas höher legen will. Das Kalb ist jetzt ziemlich dicht unter mir. Vielleicht hält es mich für seine Mutter. Vielleicht ist es das, was mich schützt.
    Mein Körper baut jetzt schnell ab. Mein Denken verlangsamt sich, aber ich bin noch bei Bewusstsein. Nach besten Kräften beschwöre ich Bilder von Lewis Gordon Pugh und Lynne Cox herauf. Ich stelle mir seinen V-förmigen Brustkorb vor, ihre Wespentaille. Die kalte, dunkelblaue Ostsee. Die über der Antarktis untergehende Sonne. Eisschollen wie Skulpturen der Moderne. Aber die Bilder zerfransen schnell in meinem überforderten Gehirn, und an ihre Stelle treten zufällige Worte. Drei Stunden. Vier Stunden. Mentales Durchhaltevermögen. Körperfett. Ich bin nicht mal sicher, was ich da eigentlich nuschle. Mount Everest. Thermische Beanspruchung. Schlaf.
    Das Gesicht von Trudy Flanagan treibt vor mir: Das muss jetzt aber eine ziemliche Aufgabe sein. Ich schlage das Wasser, ziehe mich weiter. Nein, nein. Ein Klacks. Keine Psycho-Tests. Wackelpudding ist das Größte . Der Sportwissenschaftler öffnet seinen Mund, um vergnügt zu

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