Die Frau die nie fror
auf den Rückweg über die Tundra. Ich schließe zu Parnell auf und schmiege mich an seine Schulter. Er legt im Gehen seinen Arm um mich.
Kapitel 30
D ie Nacht verbringen wir an dem See am Fuße des Mount Duval. Jimmy zieht unbeeindruckt und grinsend eine halbvolle Flasche aus dem Rucksack und bietet sie uns an. Martin, Parnell und ich lehnen ab, also leert er sie selbst und legt sich dann im Zelt schlafen. Umgeben von der dunklen Tundra sitzen wir drei im kurzen Gras neben dem Flugzeug und plaudern über ganz einfache Dinge. Es herrscht eine Vertrautheit zwischen uns, wie sie sich einstellt, wenn man gemeinsam etwas durchgemacht hat. Wir haben kein Feuer, denn außer Gras gibt es nichts zu verbrennen, aber ich bin in einen Schlafsack gewickelt und fühle mich gut. Ich bin fasziniert von den leuchtend grünen Lichtbändern, die gemächlich über den Nachthimmel tanzen.
Bei Tagesanbruch befinden wir uns in der Luft und fliegen in südlicher Richtung über die Hudson Strait. Am frühen Vormittag landen wir in Hopedale. Martin, Parnell und ich werfen unsere Taschen auf die Ladefläche von Martins Pick-up. Jimmy steht breit lächelnd neben seiner Piper Cherokee und verabschiedet sich mit einem Winken. Zu Hause nimmt sich Martin nicht die Zeit für Tiffanys atemlose Fragen, sondern marschiert schnurstracks durch die Küche zum Telefon im Wohnzimmer. Schon bald hören wir, wie seine normalerweise sanfte Stimme hart wird, als er mit großer Dringlichkeit den kanadischen Behörden die genaue Position der Galaxy und des Massakers an den Narwalen durchgibt. Parnell öffnet seinen Laptop auf dem Küchentisch und macht sich daran, einen ersten Entwurf seiner Geschichte in die Tastatur zu hacken. Ich verschwinde ins Badezimmer, um mir den Sand, das Salz und das Walblut abzuwaschen. Tiffany leiht mir etwas zum Anziehen.
Während Martin und Tiffany das Mittagessen vorbereiten, ziehe ich mich für ein paar wichtige Telefonate ins ruhige Wohnzimmer zurück. Aber vorher muss ich nachdenken und mich sortieren. Ich sitze auf der sonnenbesprenkelten Couch, habe die Beine unter mich gezogen. Über die Rückenlehne der Couch ist eine handgearbeitete, violette Häkeldecke ausgebreitet, und über den Tisch verstreut liegt grellbuntes Plastikspielzeug. Fröhliche, alltägliche Dinge, die irgendwie beruhigend wirken.
Spontan will ich als Erstes das Boston Police Departement mit Informationen zum Mord an Mrs Smith anrufen. Doch es gibt keinerlei Beweise, dass sie überhaupt ermordet wurde. Johnny hat seine Spuren gut verwischt, da bin ich mir sicher. Wenn ich ihn plötzlich beschuldige, ohne meine Behauptungen untermauern zu können, stehe ich am Ende nur wie ein Idiot da.
Zweifellos ist Johnny seit der Nacht, in der Parnell unten am Hafen zusammengeschlagen wurde, auf der Suche nach ihm. Offenbar konnte Parnell ihm bislang immer wieder entwischen. Glücklicherweise ist mir niemand zu dem Wohnheim in Charlestown oder dem Cottage in Rockport gefolgt. Ich schätze mal, das ist Troys doch eher lückenhafter Arbeitsmoral zu verdanken. Solange sich Parnell jedenfalls von der Wohnung in der Salem Street fernhält, kann er Johnny wahrscheinlich noch eine ganze Weile vermeiden.
Und was mich betrifft: Für Johnny war ich offensichtlich in dem Moment Geschichte, als ich an Bord der Superyacht ging. Während ich den ersten Teil der Reise über quasi noch eine Gefangene war, sollte ich die Reise mit einer doch recht leblosen Fahrt zum Grund der Labradorsee beenden. Mittwochnacht dürfte sich seine Selbstgefälligkeit in Luft aufgelöst haben, als Hall ihn über meine Flucht in Kenntnis setzte. Seitdem sucht er zweifellos nach mir. Sobald heute oder morgen die Verwicklung von Ocean Catch in das Massaker an Narwalen an die Öffentlichkeit kommt, wird seine Motivation, mich zu beseitigen, exponentiell zunehmen.
Johnny hat keine Ahnung, wo ich mich derzeit aufhalte. Er weiß nur, dass Hall mir das Video von Noah gezeigt hat. Also werde ich früher oder später in Boston aufkreuzen, um mich zu vergewissern, dass Noah in Sicherheit ist. Ich bezweifle, dass Johnny hinter Noah her sein wird, bevor er mich im Visier hat. Ein vermisstes Kind sorgt für eine Menge Medienwirbel, den er nach Möglichkeit vermeiden wird, und außerdem braucht er Noah als Köder. Selbst wenn er versucht haben sollte, Noah irgendwann in den letzten Tagen zu entführen, dürfte er damit kein Glück gehabt haben. Thomasina und Noah haben ihre Wohnung direkt am Tag nach meiner
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