Die Frau die nie fror
ist wunderbar. Es ist toll, wie er mir mit Noah hilft. Ich bin am Tag zu zwei Treffen gegangen. Wer glaubt, Beacon Hill sei nobel, sollte mal sehen, von wem die Keller der Kirchen in dieser Gegend bevölkert werden. Pirio, Noah wird doch nichts Schlimmes zustoßen, oder?«
»Nein, es passiert schon nichts. Solange du tust, was ich sage.«
»Gut. Denn das könnte ich nicht verkraften. Möchtest du mit ihm sprechen?«
»Nein. Sag ihm einfach nur hallo von mir.« Ich würde wahnsinnig gern seine Stimme hören, aber ich kann momentan am Telefon nicht auf gutgelaunte Patentante machen. Nicht, solange irgendwo da draußen Johnny Oster ist und Noah, Parnell und mich im Visier hat. Ich schwöre mir, wenn ich das nächste Mal mit Noah rede, wird er in Sicherheit sein. Wir alle. Ich habe noch keinen Schimmer, wie ich das hinbekommen soll, aber ich werde nicht ruhen, bis es so weit ist.
»Gestern Abend«, fährt Thomasina fort, »hat er mit deinem Vater Der Malteserfalke gesehen. Jetzt sind sie oben und hören Rachmaninow.«
Oh, Milosa, denke ich. Bitte gib ihm keine Zigarre!
*
Als das Essen fertig ist, versammeln wir uns alle um den Küchentisch. Matilda sitzt in ihrem Hochstühlchen, auf dem sie zappelt, jammert und anfängt zu weinen. Tiffany nimmt ihre zahnende Tochter auf den Schoß, wiegt sie und summt leise, um sie zu beruhigen. Parnell sitzt neben mir, und es fühlt sich gut an, ihn in meiner Nähe zu haben. Ich bin dankbar für den heißen Kaffee und die herzhafte Mahlzeit, aber alles kommt mir irgendwie unwirklich vor. Als wäre ich zu lange weg gewesen oder zu weit gereist und müsste nun von neuem lernen, wie man mit Messer und Gabel isst, aus einem Glas trinkt und sich den Mund mit einer Serviette abputzt. Mit jedem Heben und Senken meiner Brust, mit jedem Atemzug sind das Meer, die Narwale und ein Freiheitsdrang präsent, den ich in meinem Blut spüre. Das Haus fühlt sich demgegenüber klein, viel zu zivilisiert an.
Seit meinem letzten Aufenthalt hier nagt etwas an mir, aber ich kann den Finger nicht drauflegen, was genau es ist. Immer wieder taucht vor meinem inneren Auge die bemalte Zedernholzkiste mit Rogers Brief an meine Mutter und den Fotos auf. Als Tiffany nach dem Mittagessen Parnell in die Stadt bringt, damit er seine E-Mails abrufen kann, bemerke ich das schwarze Vogelgesicht, das vom obersten Bord des Regals herunterzusehen scheint. Ich frage Martin, ob ich es mir noch einmal ansehen dürfte.
»Natürlich«, sagt er und gibt mir die Kiste.
Ich setze mich auf die Couch, öffne den Deckel und nehme den Brief und die Fotos heraus. Jetzt sind nur noch ein Taschenmesser an einem dünnen, geknüpften Strick und ein kleines, braunes Fläschchen darin.
Ich halte das Taschenmesser hoch. »Ist das …«
»Ja«, sagt Martin mit einem beklommenen Nicken. »Er hat geschnitzt. Ich zeige dir später einige seiner Schnitzarbeiten.«
»Ich frage mich, warum er wollte, dass es meine Mutter bekommt.«
»Vielleicht hätte es ihr etwas bedeutet. Es war eines seiner wertvollsten Schätze.«
Ein wenig traurig lege ich es zurück und frage mich, wie er wohl war.
Dann nehme ich das Fläschchen, und noch bevor ich den Plastikdeckel ganz abgeschraubt habe, beginnt mein Herz zu rasen. Plötzlich weiß ich, was ich in der Hand halte.
Der Deckel ist herunter, ich hebe das Fläschchen an meine Nase, inhaliere die entweichenden Moleküle, und es ist, als stünde sie im Raum. Nein, sie ist noch näher: als lebte sie in der Luft, die ich einatme. Gefühle umspülen mich, ein Wasserfall an Erinnerungen – Hunderte von Reaktionen füllen mich mit einem Male aus. Staunen, Liebe und Enttäuschung. Wut und Sehnsucht, Zufriedenheit und Schmerz. Ihr Lachen erklingt wie eine helle klare Glocke in meinen Ohren, ihre Zigarette brennt im Aschenbecher herunter, ich sehe, wie sie die Augenbraue hebt. Ihre schlanken Hände, stark und warm, streicheln mich, und ich wünsche mir einen graden Rücken so wie ihrer. Ich kann gar nicht genug bekommen. Ich halte das Fläschchen wie einen Kelch und atme meine Kindheit ein, die wilden Blumen von Labrador, der kühle Staub im Juli. Ich sehe in meiner Phantasie, wie sie sich träge auf der Liege ausstreckt, die auf der Terrasse des Architektenhauses steht, wie sie ihr Buch zu Boden fallen lässt und sich beklagt, heutzutage wisse niemand mehr, wie man eine gute Geschichte erzählt. Dann lächelt sie, und in ihren Augenwinkeln tauchen Lachfältchen auf. Als ich im Bett liege, beugt sie
Weitere Kostenlose Bücher