Die Frau die nie fror
versuche es doch, Pirio.«
»Tatsächlich? Und wie sehr hast du es gestern Abend versucht?«
»Es ist nicht so einfach, wie du denkst«, sagt sie müde.
»Noah war völlig verängstigt. Ich war die ganze Nacht unterwegs, um herzukommen. Was, wenn ich nicht greifbar gewesen wäre?«
»Ich verspreche dir, es passiert nicht wieder.«
Angewidert schüttele ich den Kopf. »Ich wünschte, du hättest das nicht gesagt.«
Als ich aus dem Auto steigen will, legt sie mir ihre Hand auf den Arm. »Warte. Würde es dir etwas ausmachen, mich raus nach East Milton zu fahren? Dort steht mein Wagen.«
»Nimm ein Taxi«, sage ich kurz angebunden. Es ist früh, und ich habe nicht geschlafen. Und in mir steigt die vertraute Abneigung dagegen auf, hinter ihr aufzuräumen. Ich habe mein eigenes Leben, meine eigenen Probleme, einen Job, zu dem ich muss, und einen eiskalten Pool, in dem ich irgendwann schwimmen muss. Und Noah muss in die Schule.
*
Um fünf Uhr nachmittags trotten wir drei auf Noahs Wunsch einen Hügel hinter einem der Parks hinauf, von denen es in unserer Stadt reichlich gibt. Thomasina trägt eine Weihnachtstüte, die sie aus einem Schrank hervorgekramt hat. Darin befindet sich die Plastikdose mit Jerrys sterblichen Überresten. Der Pfad den Hügel hinauf ist gewunden und ausgewaschen vom Regenwasser. Noah tollt herum; Thomasina und ich bahnen uns vorsichtig einen Weg um hervorspringende Felsbrocken. Wir kommen auf eine kleine Lichtung mit Blick über die Stadt. Boston ist nur einen Steinwurf entfernt, von hier aus jedoch in vollem Umfang zu sehen. In einer Stunde wird es dunkel, und die Hochhäuser spucken ihre Angestellten aus. In der Mitte der Lichtung ist eine mit Steinen umrahmte Feuerstelle, in der verkohlte Äste liegen. Eine überraschend saubere Angelegenheit.
Das ist einer der Orte, wie ihn nur Kinder kennen, wohin sie gehen, um ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen und vor uns Ruhe zu haben. Es überrascht mich allerdings, dass Noah ihn gefunden hat; dann ist er also doch nicht so ein ängstlicher Stubenhocker, wie ich dachte. Aber mir war schon immer klar, dass er verschwiegen war.
Er zeigt auf einen Platz unter einer struppigen Kiefer, wo wir graben sollen, und Thomasina und ich knien uns gehorsam hin, in der Hand die Servierlöffel, die sie von zu Hause mitgenommen hat. Nach einer Weile hat sie keine Lust mehr, steht auf und stellt sich etwas weiter weg auf einen Felsvorsprung. Haarsträhnen wehen ihr ums Gesicht, eine leichte Brise scheint direkt vom eine Meile weit entfernten Atlantik zu kommen. Die ganze Zeit trägt sie ihre große Sonnenbrille, die jetzt genauso überflüssig ist wie heute Morgen, und ich stelle fest, dass Thomasina überhaupt nicht bei uns ist, sondern in ihre eigenen Gedanken versunken. Sie redet irgendetwas, schwankt ein wenig und schlingt ihre Arme zärtlich um sich selbst.
Mir wird klar, dass sie irgendwas genommen hat. Valium oder Percocet, ein Schmerzmittel, das Opioide enthält. Jedenfalls genug, um ihr über den andauernden Kater zu helfen und die Welt in ein weiches, freundliches Licht zu tauchen.
Hinter dem Felsvorsprung ist ein steiler Abhang.
»Komm ein Stück zurück«, ermahne ich sie.
Noah, der sich ihren herumliegenden Löffel genommen hat, blickt von seiner Buddelei auf. »Mom, komm zurück.«
Sie lächelt wunderhübsch und nennt uns Engel. Dann setzt sie sich im Schneidersitz auf den Boden. »Erinnerst du dich noch daran, als du im Gefängnis warst, Pirio?«
Noah schnappt nach Luft. »Pirio war im Gefängnis?«
»Mhm-mh. Im Internat mussten wir ganz allein in einem kleinen Zimmer sitzen, wenn wir uns schlecht benommen hatten. Wir haben es das Gefängnis genannt. Pirio war oft dort drinnen.«
Noah sieht mich mit aufgerissenen Augen an. »Ehrlich?«
»Das kann ich nicht abstreiten.«
»Wie lange musstest du da drinnen bleiben?«
»Oh, ein paar Stunden, nehme ich an.«
»Länger. Viel länger«, sagt Thomasina mit bewundernswerter Zurückhaltung. »Ich bin immer mitten in der Nacht hinuntergegangen und habe mit ihr durch die geschlossene Tür geredet, damit sie nicht so einsam ist. Weißt du noch, Pirio?«
»Ja, weiß ich.« Thomasina hat mich die meiste Zeit bei Laune gehalten, sonst wäre ich verrückt geworden. Damals hat sie das Leben so genommen, wie es gerade kam, hatte immer den Wind im Rücken, und ich war diejenige, die, bildlich gesprochen, die Treppen hinunterfiel und sich an Türen den Kopf einrannte.
»Weißt du noch, als ich dir
Weitere Kostenlose Bücher