Die Frau die nie fror
Liebes«, sagt eine der beleibteren Damen.
Libbys Augen füllen sich. »Oh, meine lieben Freunde, ich werde euch auch vermissen.«
Sie fängt an, einen großen Gugelhupf auf dem Tisch vor sich zu zerteilen. Er hat einen Schokoladenüberzug, darauf eine pinkfarbene Schrift und Blumen. Sie kippt jedes Stück auf einen Pappteller, fügt Serviette und Plastikgabel hinzu und ruft lachend: »Wer will eine Rose?« Die Teller werden weitergereicht, bis sie am anderen Ende des Raumes angekommen sind. Einer davon wird mir in die Hand gedrückt. Ich lächle und bedanke mich. Warum unhöflich sein?
Neben Libby steht ein großer Mann in einem grauen Anzug. Er wirkt ein wenig gebeugt, hat fast eine Vollglatze, und in seiner Stimme liegt eine gewisse ängstliche Gereiztheit. »Ich möchte ein paar Worte sagen«, setzt er an, woraufhin alle sofort verstummen und aufhören, sich zu bewegen. Die unmittelbare Reaktion impliziert, dass er so was wie ein Chef sein muss.
»Ich kenne Libby, seit ich ein kleiner Junge war«, sagt er. »Sie hat mir immer Kekse geschenkt, und später, als ich auf der Highschool war, haben wir uns über Basketball unterhalten. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich von ihr auch ein paar gute Ratschläge bezüglich des anderen Geschlechts erhalten.« Mit einem verlegen gurgelnden Lachen verziehen sich seine schmalen Lippen zu einem Lächeln.
Das Publikum antwortet mit einem leisen Glucksen.
»Ich hätte mir nie träumen lassen, eines Tages als Inhaber und Chef zu Ocean Catch zurückzukehren. Ich dachte, nach meinem MBA ginge es für mich ab nach New York oder Los Angeles. Aber als mein Vater starb … nun, ich vermute, da musste ich einfach zurückkehren. Das hier ist mein Zuhause, und ich konnte nicht einfach verkaufen oder alles jemand anderem überlassen. Aber einen Fischereibetrieb zu übernehmen ist kein Kinderspiel, glauben Sie mir. Wäre unsere Libby hier nicht gewesen, ich weiß wirklich nicht, was ich dann gemacht hätte. Nach fünfunddreißig Jahren als Sekretärin meines Vaters kannte sie diese Firma in- und auswendig. Es gab kein Problem, das sie nicht lösen konnte, und sie war immer mit ihrem wundervollen Enthusiasmus dabei. Ich glaube nicht, dass ich je eine Klage von ihr gehört habe. Sie versprüht Sonnenschein, wo immer sie geht.« Er wendet sich der Frau neben ihm zu und hebt feierlich einen Pappbecher. Aufgrund ihres Größenunterschieds befindet sich sein Arm ungefähr dreißig Zentimeter über ihrem Kopf. »Auf dich, Libby Smith! Vierzig Jahre lang Herz und Seele von Ocean Catch! Der Laden wird ohne dich nicht mehr so sein, wie er mal war!«
»Hört, hört!«, ruft ein Mann, und Libbys Kollegen fangen an zu klatschen und zu jubeln.
»Genug jetzt«, sagt sie errötend. Ihre Stimme geht im Applaus fast unter. »Alles nur Schmeichelei und Geschwätz. Hört endlich auf.«
Als sich alles langsam beruhigt, fragt die Frau neben mir, ob ich einen Kaffee möchte. Ich mampfe gerade Kuchen, also nicke ich nur. »Milch und Zucker?« Wieder nicke ich. Als sie mit meinem Becher zurückkommt, erkundigt sie sich nach meinem Namen. Ich antworte in einer, wie ich finde, normalen Lautstärke. Und mit einem Mal wird es still im Raum.
»Sind Sie die …?« Die Frau scheint Schwierigkeiten zu haben, die richtigen Worte zu finden.
Inzwischen sind alle Blicke auf mich gerichtet. »Ich bin eine Freundin von Ned Rizzo«, sage ich mit strahlendem Selbstvertrauen, als würde das erklären, warum ich, eine völlig Fremde für Libby Smith, auf ihrer Abschiedsparty aufgetaucht bin.
»Sie sind die Frau, die überlebt hat!«, sagt irgendwer.
Ich sehe all die vollkommen erstaunten Gesichter. »Ich habe Glück gehabt«, sage ich und tue es mit einem Achselzucken ab.
Die Leute umringen mich, bieten mir Beileid, Glückwünsche, Respekt und Freundschaft an – und das Ganze vermischt mit einem Hauch stillen Schreckens. Ich versuche freundlich zu sein, doch sobald ich an diesen Tag erinnert werde, rieche ich Seewasser und möchte mich erbrechen.
Libby Smith kämpft sich zu mir durch. »Liebes, ich habe Sie kennenlernen wollen. Ich kannte Ned seit zwanzig Jahren. Er war so ein guter Mensch. Es tat mir in der Seele weh.«
Der Firmeninhaber steht hinter ihr. Er drängt sich durch, bietet mir die Hand an und stellt sich als Dustin Hall vor.
Ich begegne Fragen, so gut ich kann. Schließlich legt sich die Aufregung, mich kennenzulernen, und die Angestellten sowie Dustin Hall widmen sich wieder dem Gugelhupf
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