Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau die nie fror

Die Frau die nie fror

Titel: Die Frau die nie fror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Elo
Vom Netzwerk:
durch die Tür das Kamasutra vorgelesen habe? Erinnerst du dich noch an diese Stellungen? Das Aufblühen, die Erheiterung des Vogels, der Donnerkeil. Wir haben hysterisch gelacht und uns auf dem Boden gewälzt.«
    Ich muss schmunzeln. Es gibt kaum etwas Komischeres für fünfzehnjährige Mädchen als die detaillierte Beschreibung von Stellungen beim Geschlechtsverkehr, geschrieben in heilig klingender Prosa.
    »Was ist Kamasutra ?«, fragt Noah.
    »Nur ein doofes indisches Buch. Uralt. Würde dir nicht gefallen«, sage ich.
    »Und weißt du noch, wie ich immer Mundharmonika gespielt habe? Damals, in meiner Joni-Mitchell-Phase. Einmal habe ich im Chemieunterricht damit angefangen, und der Lehrer hat mich runter zu Dickhead Bates geschickt. Erinnerst du dich an seinen Sprachfehler? Thomachina, Thomachina. Gib mi r dein Inchtrument. Ich musste ihm meine Mundharmonika aushändigen. Er hat sie mir übrigens nie zurückgegeben.« Sie lacht strahlend. »Aber ich habe mir eine neue gekauft.«
    »Das war gemein von ihm, sie dir wegzunehmen«, sagt Noah mitfühlend.
    »Ja, das war es.« Sie starrt auf die Skyline von Boston.
    »Man darf in der Schule keine Mundharmonika spielen«, erklärt Noah.
    Thomasina lächelt ihn wehmütig an. »Ach, was bist du nur für ein süßer Junge.«
    Wir verstummen. Noah und ich kratzen weiter den harten Boden mit unseren Löffeln auf. Schließlich ist der Moment gekommen. Das Loch ist ungefähr zwanzig Zentimeter tief, und die Weihnachtstüte steht daneben. Noah gibt mir einen Wink, ich hätte die Ehre. Ich hole die kleine, in ein Geschirrtuch eingewickelte Leiche heraus und lege sie vorsichtig auf den Grund des Loches. Noah zuliebe mache ich es sehr langsam und feierlich.
    Als ich anfange, wieder etwas Erde in das Loch zu schieben, gerät er in Panik und packt meinen Arm. »Warte. Sollten wir jetzt nicht irgendetwas sagen?«
    Ich habe nie auch nur ein einziges Gebet gelernt. Ich könnte versuchen, aus dem Stegreif über Jerrys Tugenden zu sprechen, aber ich kannte ihn nicht gut genug. Alles, was mir einfällt, ist ein bisschen russische Literatur. Ich konzentriere mich und schaffe es, aus dem Gedächtnis ein paar Bruchstücke eines Gedichtes von Puschkin abzurufen. Zeilen, die gewöhnliche melancholische Empfindungen beschreiben: wie die Zeit vergeht, wie alles zu Staub wird, wie unsere Herzen sich immer nach denen sehnen, die wir verloren haben. Angemessenes Material für Begräbnisse.
    Doch als ich Noahs eindringliches, vertrauensvolles Gesicht sehe, weiß ich, dass ich mir etwas anderes einfallen lassen muss. Zu meiner Überraschung springt mir ein vollständig ausgeformter Vers von Jewtuschenko auf die Lippen, als hätte er die ganze Zeit hinter den Kulissen begierig auf seine große Chance gewartet: »Ich habe mich irrsinnig darin getäuscht / zu denken, mein Leben wäre vorüber.«
    Noah ist still und zufrieden. Obwohl seine Augen und Wangen trocken sind, verrät ein tiefer Seufzer seine Gefühle. Ich kann nicht einmal ansatzweise erahnen, was ihm diese Gedicht­zeile sagt, doch sie scheint ihren Zweck erfüllt zu haben. Behutsam schieben wir Erde in das kleine Grab, bis der Boden wieder flach und glattgeklopft ist. Dann lehnen wir uns auf den Fersen in stiller Einkehr einen Augenblick zurück.
    Als wir bei einsetzender Dämmerung nach Hause gehen, singt Thomasina leise vor sich hin. Wir gehen noch auf eine Pizza zu Christo’s und lachen viel und unbeschwert, doch als wir uns schließlich vor meinem Apartmenthaus voneinander verabschieden, ist Thomasinas Gesicht abweisend. Die Wirkung der Medikamente hat nachgelassen. Sie scheint nicht nach Hause gehen zu wollen und fragt Noah, ob er meine beiden Nummern in sein Mobiltelefon einprogrammiert hat.
    »Mhm-hm«, antwortet er. »Aber ich find’s nicht mehr.«
    »Du hast dein Handy verloren?«
    »Ich weiß nicht, wo’s ist.«
    »Was meinst du damit, du weißt nicht, wo es ist? Wann hast du es zum letzten Mal gesehen?«
    »Schon länger nicht mehr.« Er wirkt beunruhigt. Es ist gar nicht seine Art, Sachen zu verlieren, und er spürt die schnell anwachsende Verärgerung seiner Mutter.
    »Warum hast du es mir nicht gesagt? Was, wenn etwas passiert wäre? Du musst anfangen, besser aufzupassen, Noah. Du kannst deine Sachen nicht einfach so herumliegen lassen.«
    »Ich hab’s nicht herumliegen lassen. Es ist verschwunden.«
    »Verschwunden? Nichts verschwindet einfach so. Menschen sind nachlässig. Deswegen gehen Dinge verloren.«
    Noah klopft

Weitere Kostenlose Bücher