Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau die nie fror

Die Frau die nie fror

Titel: Die Frau die nie fror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Elo
Vom Netzwerk:
her.
    »Von heute an bin ich frei und ungebunden«, sagt sie mit müder Fröhlichkeit. »Ich weiß nicht, was ich morgen tun werde. Vielleicht bis mittags schlafen und in einem Café einen Kaffee trinken.« Sie schenkt mir ein schiefes Lächeln, das in sich zusammenfällt. »Es ist scheußlich, wie wir immer das Beste aus ­allem machen müssen, oder? Man sollte annehmen, in meinem Alter hätte ich gelernt, einfach nur die Wahrheit zu erzählen. Ich bin aufgeregt, ich bin froh, und ich habe sehr, sehr viel Angst. Mit wem werde ich mich nun unterhalten? Ocean Catch war mein Leben, und all diese Leute … in gewisser Weise waren sie meine Familie. Oh, wir sagen, wir bleiben in Verbindung, aber Sie wissen ja, wie das läuft. Ich muss jetzt neue Freunde finden. Aber wo? Im Seniorenzentrum? Da sind doch nur alte Leute!«
    Ich lächle sie liebevoll an. Was soll ich sagen?
    Jasper bleibt stehen, um neben dem Weg sein Geschäft zu erledigen. Mrs Smith kramt eine Tüte aus der Tasche, sammelt den Hundekot auf und wirft alles in die nächste Mülltonne. Sie tätschelt und lobt Jasper, dessen braune Augen sie unter der Fellmähne anleuchten.
    »Wissen Sie, Ned hat etwas sehr Seltsames gemacht, bevor er das Unternehmen verließ«, sagt sie, als wir einer Biegung des Weges folgen. »Ich habe ihm seinen Bonusscheck gegeben. Er hat damit in der Luft herumgewedelt und gesagt: ›Das ist mein letzter, Libby!‹ Er hat wie ein kleiner Junge gejuchzt und mir einen dicken Schmatzer auf die Wange gedrückt. Ich war entzückt, aber auch sehr überrascht. Ich wusste natürlich, dass er die Firma verlassen wollte, aber die wenigsten Menschen reagieren so, wenn sie ihren letzten Gehaltsscheck bekommen.«
    »Ein Bonusscheck, sagen Sie? War das eine Art Abfindung?«
    »Nein, ein paar der Männer haben Bonusschecks für die Arbeit bekommen, die sie zusätzlich erledigt haben. Genau genommen ist es das, worüber ich mit Ihnen reden wollte. Ich wollte es schon eine ganze Weile jemandem erzählen, einfach nur, um mir Rat zu holen, aber ich wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte. Ich war zur Geheimhaltung verpflichtet, aber jetzt, wo ich keine Angestellte mehr bin … Na ja, und dann sind Sie heute wie aus heiterem Himmel auf meiner Party aufgetaucht und haben sich nach der Molly Jones erkundigt. Ich bin sicher, dass Ihnen Dustin absolut nichts gesagt hat, aber mir war es plötzlich wichtig, dass Sie die Antwort bekommen, nach der Sie suchen. Sie waren eine Freundin von Ned, und Sie haben so viel durchgemacht.« Sie blickt fragend zu mir auf, als wolle sie sich vergewissern, ob ich ihr Vertrauen auch verdiene.
    »Ich werde versuchen zu helfen, wenn ich kann.«
    Ein paar Jugendliche, die sich um eine Bank herumdrücken, hören auf zu reden. Sie tragen Bandanas und aufgeplusterte ­Jacken und starren uns mit aggressivem Schweigen an, als wir vorübergehen.
    »Sie werden doch niemandem sagen, dass ich Ihnen das alles erzählt habe, oder?«
    »Nein, das werde ich nicht.«
    Sie holt tief Luft. »Wissen Sie, jahrelang war ich für die Lohnbuchhaltung und die entsprechenden Steuern zuständig. Als Dustin in die Firma kam, wollte er alles an ein Steuerberatungsbüro abgeben, ja, er hat sogar darauf bestanden. ›Die arbeiten akkurater‹, hat er gesagt. Nur, das stimmt nicht: Die machen erheblich mehr Fehler, als ich je gemacht habe. Ach, herrje, ich verliere schon wieder den Faden! Haben Sie bitte ein wenig Geduld mit mir. Ich bin heute oft so zerstreut! Na, jedenfalls, im Juni 2007 fing Dustin an, mir eine Liste mit Namen zu geben, und sagte dazu, ich solle Bonusschecks ausstellen, und zwar per Hand. Kein anderer Papierkram. Keine E-Mails oder Computereinträge. Nur diese handschriftliche Liste. Meine An­weisung lautete, die Schecks auszustellen, sie verschlossen in meiner Schublade aufzubewahren und dann persönlich den Männern zu geben, wenn sie zu mir kamen. Ich durfte sie niemals oben auf meinem Schreibtisch liegen lassen, per Post verschicken oder jemand anderem als dem rechtmäßigen Empfänger aushändigen, und ich durfte niemals mit anderen Leuten in der Firma über die Boni sprechen. Das alles passierte mehrmals im Jahr.«
    »Und Ned hat auch solche Boni erhalten?«
    »Er war einer der Ersten.«
    »Wie viele andere haben sie bekommen?«
    »Acht, neun, zehn, würde ich sagen. Die Anzahl schwankte, aber nicht viel. Es gab eine Kerngruppe. Die meisten von ihnen vertrauenswürdige, erfahrene Fischer. Ein paar junge, aber nicht

Weitere Kostenlose Bücher