Die Frau die nie fror
kleine gefaltete Karte mit einem ID -Code: A37, X45, #22, P-40 und #3. Es hat keinen Sinn zu fragen, was diese ausgefeilten alphanumerischen Kombinationen bedeuten. Parfümeure sind ausgesprochen verschwiegen, was ihre Rezepturen angeht, fast schon paranoid, und die Etiketten müssen von niemandem verstanden werden.
Jean-Luc schreitet den Tisch ab, kontrolliert die exakte Ausrichtung der Flakons und rückt die Kärtchen zurecht. Um die Düfte in der Nase zu neutralisieren, hat er zwei kleine Schalen mit Kaffeebohnen bereitgestellt, die er auf der Suche nach dem besten Standort hierhin und dorthin schiebt. Gegen seine Nervosität kommt er nicht an. Gleich wird er seine kreativen Schöpfungen der Gnade von Leuten mit mehr oder weniger gewöhnlichen Nasen unterwerfen. Viel schlimmer jedoch ist, dass diese Produkte meilenweit von den eleganten Düften entfernt sind, von denen er in Grasse als junger Assistent eines Parfümeurs geträumt hat. Sicher hat ihn der Auftrag, etwas »Frisches und Fruchtiges« für den amerikanischen Teenager zu komponieren, nachts wach gehalten, mit Kopfschmerzattacken purer Verzweiflung. Aber heutzutage ist eben jeder froh über einen Job.
Maureen flitzt durch den Raum und murmelt Freundlichkeiten. Für den heutigen Anlass hat sie ein perfekt geschnittenes Kleid in geometrischem Schwarzweiß à la Coco Chanel gewählt. Die Hommage an Coco, die den meisten entgehen wird, ist vermutlich kein Zufall, doch wenn man sie darauf anspräche, wäre es ihr unangenehm. Was einiges über ihre Ambitionen und Selbstzweifel sagt.
Maureen bittet um die Aufmerksamkeit der Fokusgruppe und erläutert den weiteren Ablauf, woraufhin sich acht von uns am Tisch aufstellen. John Rodgers, Jay und Jean-Luc nehmen nicht teil. Wie bei einem Büfett gehen wir den Tisch entlang, nehmen nacheinander die Flakons, verteilen kleine Tropfen auf den Innenseiten der Handgelenke und Ellbogen, schnuppern einmal und dann gleich noch einmal. Jeder von uns hat einen kleinen Block und einen Bleistift, auf dem er sich Notizen machen kann. Wir können uns Zeit lassen. In gegenseitigem Einvernehmen reden wir nicht viel. Die Diskussionen kommen später, wenn wir die Auswahl eingegrenzt haben.
Milosa schlüpft zu spät herein, wie immer, und setzt sich ans Kopfende des Konferenztisches. Ich beende das Schnuppern und setze mich zu ihm. Jean-Luc taucht neben mir auf, ein nervöses Wrack. »Es war très difficile … mit die Anweisungen, wie sie es wollte. … Zuerst j’ai dit non . … Mein Firma hat insistiert, ich muss. … Aber mit so viele Modifikationen, so viele neue Auflagen, ich konnte nicht arbeiten …«
»Du hast dein Bestes gegeben«, beruhige ich ihn. »Es ist ein fruchtiger Duft, der in Drugstores verkauft werden soll. Nimm das Geld und vergiss es.«
Er bekommt große Augen. » Ce n’est pas l’argent qui m’intéresse.«
Ich war wohl zu direkt, und jetzt ist er beleidigt. Ich drücke ihn kurz und herzlich, und er schenkt mir einen verletzten, verzeihenden Blick.
Jean-Luc und ich sind schon seit Jahren befreundet. Wir waren beide etwa Anfang zwanzig, als ich ihn bat, mir bei der Rekreation des persönlichen Dufts meiner Mutter zu helfen. Ich beschrieb ihm, woran ich mich zu erinnern glaubte: erdiger Safran, schwarze Rose, Vanille, Patschuli. Der alte Parfümeur, der mit meiner Mutter an der Schöpfung dieses besonderen Dufts gearbeitet hatte, war zwischenzeitlich gestorben, doch ein anderer Parfümeur der Firma bestätigte Jean-Luc, dass Isas Duft , so nannten wir ihn, eine schwere, orientalische Chypre-Komposition gewesen war. Jean-Luc schlug vor, mit Baumflechte die Intensität zu mildern und durch Hinzufügen von schwarzem Trüffel die schwarze Rose zu verstärken. Wir änderten das Verhältnis, holten die Rose mal nach vorn und ließen sie mal in den Hintergrund treten, mischten Lilie dazu, Mandel, Salbei. Wir frickelten ewig daran herum. Aber bei jeder neuen Rezeptur schüttelte ich den Kopf. Wir schienen immer nur weiter vom Weg abzukommen. Irgendwann gaben wir auf. Die Wahrheit ist, dass Menschen sich an Düfte gar nicht wirklich erinnern, wir können sie lediglich wiedererkennen.
Einige unserer Mitarbeiter drängen sich um den ausgestreckten Arm einer jungen Frau und sind offenbar ganz begeistert wegen eines bestimmten Duftes. »Wahnsinn!«, kräht eine Kollegin. Maureen schnuppert am Handgelenk der jungen Frau und lächelt. Auch ihr gefällt dieser Duft. Ein heiteres Stimmengewirr erhebt
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