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Die Frau die nie fror

Die Frau die nie fror

Titel: Die Frau die nie fror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Elo
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Leben. Du weißt schon, samstags ins Einkaufszentrum, zu Fußballspielen, Pizzaabende mit Freunden …« Sie verstummt allmählich. »Bald ist Thanksgiving«, sagt sie vage.
    Ich widerstehe der Versuchung, eine Bemerkung über Norman Rockwell zu machen, denn das wäre jetzt eigentlich ihr Text. Vor zehn Jahren hätte es ihr förmlich auf der Zunge gelegen. Stattdessen platze ich damit heraus, dass Noah nicht mal Fußball spielt.
    »Er könnte es doch lernen«, insistiert sie. »Er könnte in einen Verein gehen und Freunde haben, wie all die andern Jungs. Weil seine Mutter keine Alkoholikerin mehr wäre.« Ihr Gesicht glüht, die Lippen zittern. »Sie wäre verheiratet – wir würden in einem richtigen Haus leben. Er bräuchte sich nicht mehr zu schämen.« Sie nippt vorsichtig an der Cola und versucht, sie zu mögen.
    Mir kommen die Tränen. Denn es stimmt. Sie trinkt Coke light und keinen morgendlichen Mimosa oder eine Bloody Mary, und sie scheint auch keinen Kater zu haben. Sie versucht es wirklich . Langsam verfliegt mein Ärger, und alles tut mir leid – mein Verhalten, meine harte Linie und was ich alles zu wissen glaube. Ich blinzle meine Tränen weg, doch mein Herz ist immer noch aufgewühlt. »Himmel, Thomasina«, sage ich schließlich.
    »Ich weiß«, sagt sie leise.
    Als Max frisch geduscht zurückkehrt, schauen Thomasina und ich in un­terschiedliche Richtungen und versuchen uns zu fangen. Der beißende Limonen-Patschuli-Duft des Old-Spice-Aftershaves umgibt ihn. Es ist der widerlich vertraute Geruch von zu vielen Generationen stumpfsinniger amerikanischer Männer. Ich wünschte, er würde etwas anderes tragen.
    »Max, Liebling«, säuselt Thomasina und wendet ihm ein gefasstes Gesicht zu, »Pirio und ich sind seit Ewigkeiten befreundet. Seit der Highschool. Wir sind praktisch wie Schwestern.«
    Er versteht den Hinweis und sagt, er müsse jetzt los. Sagt, es sei nett gewesen, mich wiederzusehen, bla, bla, bla, und schon ist er weg.
    Thomasina steht auf und macht sich an den Abwasch. Ihr angespannter Rücken ist ein Schutzschild gegen meine Skepsis. Ich biete nicht an, ihr zu helfen. Die Küche ist klein, es gibt nicht viel zu tun, und ich möchte dem Rücken jenen Freiraum gewähren, um den er bittet.
    Auf dem zerkratzten Holztisch steckt ein limonengrüner iPod nano in einem Bose-Lautsprecher, zwanzig oder mehr Glä­ser mit Gewürzen stehen wahllos in Gruppen auf dem Küchentresen neben dem Herd. Auf der Fensterbank stapeln sich braune Mappen, Thomasinas rudimentäres Ablagesystem. Damals, als wir uns auf der Gaston School ein Zimmer geteilt haben, war sie die Gründliche von uns beiden, machte sich ständig irgendwelche Notizen und behielt mit einem Wochenplaner immer den Überblick. Sie schrieb auch Tagebuch, notierte täglich und reichlich ihre Gedanken und Gefühle, war offensichtlich besessen von dem Drang, ihr Leben in allen Facetten zu protokollieren. Ein Buch – in Leder gebunden, mit ­einem verschnörkelten, mittelalterlich aussehenden Schloss –, von dem ich annehme, dass es ihr aktuelles Tagebuch ist, liegt neben einem Räuchergefäß auf einem Regalbrett. Ich stelle mir vor, wie sie mitten in der Nacht damit beschäftigt ist, sämtliche intimen Details aufzuschreiben, für die sich niemand sonst auf dieser Welt interessiert. Warum sollte sie sich keinen Menschen wünschen, dem sie sich anvertrauen kann, anstatt nur den leeren Seiten eines Buches?
    Nachdem sie das Geschirr abgespült und fortgeräumt hat, schenkt sie mir Kaffee nach und lässt sich übertrieben laut am Tisch nieder, was verdeutlichen soll, dass sie sich so schnell nicht mehr wegbewegen wird. »Bitte, freu dich doch einfach für mich, Pirio. Bitte.«
    »Klar freu ich mich«, erwidere ich hölzern.
    Sie senkt ihre Stimme auf einen leisen, vertraulichen Ton. »Weißt du, warum ich so sicher bin, dass er der Richtige ist? Ich habe bei Madame Jeanne die Herrscherin gezogen.«
    Oh nein. Das ist ja noch schlimmer, als ich dachte.
    Madame Jeanne ist Thomasinas Muse und Mentor, ihr spi­ritueller Leitstern. Mittwochnachmittags sitzt sie in einem angesagten Café an der Newbury Street am Fenster und liest einem für zehn Dollar fünfzehn Minuten lang aus den Tarotkarten. Vor ein paar Jahren hat Thomasina mich mal in dieses Café mitgenommen, und als ich Madame Jeanne gegenübersaß, durchfuhr mich eine eiskalte Woge tiefer Abscheu. Mir gefiel das gepuderte Faltennetz um ihre Augen nicht, auch nicht der blaue Eyeliner oder das

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