Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
Gelegenheit ungenutzt, seinen Standardwitz loszulassen, obwohl er ihn ausnahmsweise nicht mit der gewohnten Schadenfreude auskostete. Sein Witz war, ebenso wie die flüchtigen Begrüßungs- und Abschiedsküsse, inzwischen zur Routine geworden.
»Ich werde mich bemühen.« Sie roch an dem Parfumflakon – ein Geschenk ihres Ehemanns. Vielleicht würde sie ja nun, da sie es konnte, anfangen, es auch zu benutzen. »Aber, Dex?«
»Hmm?«
»Könntest du bitte aufhören, mich Kat zu nennen? Oder Katherine. Ich möchte Kate genannt werden.«
»Tut mir leid, das vergesse ich immer.« Er gab ihr einen minzigen Kuss auf den Mund. »Es wird wohl einige Zeit dauern, bis ich mich an meine neue Frau gewöhnt habe.«
Dieser Kuss war nicht routinemäßig. Er ließ seine Hand über ihre Taille wandern und schob sie in den Bund ihres Höschens. »Chicago, hm?« Er lachte leise und strich mit den Lippen über ihren Hals, während seine Hand über ihren Schenkel wanderte.
Erst viel später wurde Kate klar, dass das Wort »Chicago« ein erster Hinweis gewesen war.
----
Wieso hatte sie Dexter nie die Wahrheit gesagt?
Zu Anfang ihrer Beziehung wäre es vollkommen lächerlich gewesen, ihn einzuweihen Bevor sie verheiratet waren, hatte es keinen Sinn gehabt. Aber danach?
Sie sah ihn an. Wie immer lag auf seinem Schoß ein aufgeschlagenes Buch. Dexter war ein leidenschaftlicher Leser – Technik- und Finanzmarktzeitschriften, seriöse Sachbücher und, erstaunlicherweise, unaufgeregte englische Mysterythriller, die Kate eigentlich eher einer weiblichen Leserschaft zugedacht hätte. Neben seinem Bett türmte sich stets ein Bücherstapel, das einzige Chaos in seinem ansonsten wohlgeordneten Leben.
Was hatte sie bewogen, ihr Geheimnis für sich zu behalten, nachdem sie geheiratet hatten und die Jungs zur Welt gekommen waren? Selbst noch nachdem sie nicht länger im aktiven Dienst war?
Die Vorschriften konnten nicht der einzige Grund sein, auch wenn sie durchaus eine Rolle spielten. Konnte es schlicht der Wunsch gewesen sein, nicht zugeben zu müssen, dass sie ihn all die Jahre über belogen hatte? Mit jedem Tag, den sie ihn länger im Unklaren ließ, stellte sie sich die Unterhaltung noch schwieriger vor. »Dexter«, würde sie anfangen, »ich muss dir etwas sagen.« Gott, es wäre der reinste Horror.
Sie verspürte nicht den geringsten Drang, ihm zu gestehen, wozu sie fähig gewesen war – und selbst heute noch wäre. Wenn sie ihm nicht die ganze Wahrheit sagen konnte, wollte sie lieber gar nicht erst damit anfangen. Das wäre noch viel schlimmer. Und da das schlimmste Ereignis jener Morgen in New York gewesen war – und der Grund, all dem den Rücken zu kehren –, wäre ihre Geschichte nicht vollständig und würde keinerlei Sinn ergeben. Von diesem Vorfall konnte sie ihm nicht erzählen, aber erst er würde alles rechtfertigen.
Außerdem musste sie zugeben, dass ihre Geheimniskrämerei nicht ganz uneigennützig war: Solange sie Dexter nicht die Wahrheit erzählte, behielt sie sich das Recht vor, wieder in ihr altes Leben zurückzukehren, eines Tages wieder an verdeckten Operationen teilzunehmen und eine Frau zu sein, die die größten Geheimnisse vor der ganzen Welt bewahren konnte, einschließlich ihres Ehemanns.
----
Wie angeordnet, hatte Kate sich um neun Uhr früh in der Hotelsuite im Penn Quarter gemeldet. Sie hatte sich an den Tisch gesetzt, auf dem ein gelber Notizblock und ein Stift lagen, dem mitfühlend dreinblickenden Mann namens Evan gegenüber, der in den folgenden acht Stunden geduldig jede einzelne ihrer Operationen mit ihr durchgegangen war, jeden Erfolg, den sie erzielt hatte, jedes lose Ende, das sie übrig gelassen haben könnte.
»Was ist mit Sarajevo?«, fragte Evan am Ende des dritten Tages. Sie hatten alles durchgekaut, was sie womöglich in ihren Notizen festzuhalten versäumt hatte – Adressen von Büros, die Namen von Attachés, Beschreibungen von Freundinnen. Dann hatten sie sich weniger wichtigen Ereignissen wie ihren ersten Probeeinsätzen in Europa zugewandt. Und nun waren sie offensichtlich bei den Reinfällen angelangt. »Ich war nie in Sarajevo«, antwortete sie.
»Nie?«
»Nein.«
»Aber Ihr Ehemann. Erst vor Kurzem.« Evan sah von seinem Notizblock auf, dessen Seiten mit allerlei Gekritzel, Pfeilen und Sonstigem bedeckt waren. »Wieso?«
Niemand gibt gern zu, dass er keine Ahnung von den Aktivitäten, Gewohnheiten und Neigungen des eigenen Partners hat. Kate wollte sich nicht
Weitere Kostenlose Bücher