Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
beiseitegelegt. Kate konnte diese Disziplin nur bewundern.
»Ach, das ist doch lächerlich. Pour elle aussi «, sagte Julia zu ihrem Kellner.
»Ihr Französisch ist sehr gut«, meinte Kate, als er außer Hörweite war.
»Danke für diese Lüge, aber das stimmt nicht«, wiegelte Julia ab. »Ich habe einen fürchterlichen Akzent. Der Fluch des Mädchens aus dem Mittleren Westen.« Eigentlich klang sie nicht so, andererseits versuchten alle Amerikaner, ihren Akzent abzustreifen. »Aber ich habe Vokabeln gelernt.« Julia hob ihr Glas. »Wollen wir nicht Du sagen?« Sie prostete Kate zu. » A ta santé «, sagte sie und stieß mit ihr an. » Et à nouvelles amies .«
Kate sah die andere Frau an, ihre vom Wein geröteten Wangen und die leicht glasigen Augen.
»Auf eine neue Freundin.«
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Mit zusammengekniffenen Augen sah Kate, wie Dexter im hellen Sonnenschein den Kiesweg entlanggeschlurft kam.
»Was machst du denn hier?«, fragte sie.
Während der vergangenen Woche hatte die Familie nicht allzu viel von ihm zu sehen bekommen. Und wenn er sich hatte blicken lassen, war er distanziert und mit den Gedanken woanders gewesen. Kate war froh, dass er hier war, geradezu aus dem Häuschen, obwohl es eigentlich nichts Besonderes war, dass ein Mann sich zu seiner Familie auf den Spielplatz gesellt.
»Wenig los heute«, sagte Dexter und beugte sich vor, um ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund zu geben. Kate konnte diese Routinebegrüßungsküsse nicht ausstehen, brachte es aber nicht übers Herz, Dexter zu bitten, sie sich zu verkneifen. Sie wusste, dass sie ihm ihre Aversion gegen diese automatischen Zärtlichkeiten nur schwer begreiflich machen konnte, und fürchtete, er würde es als Lieblosigkeit ihrerseits auffassen. Deshalb schwieg sie und erwiderte ihn mit derselben Oberflächlichkeit.
»Ich habe mir überlegt, ich sehe mir einfach mal an, was ihr nach der Schule so macht.«
Er sah sich auf dem Spielplatz um, der mit einem riesigen Piratenschiff und einer hohen, überdachten Rutsche ausgestattet war, die aussah wie eine Wasserrutsche ohne Wasser. Jake steckte irgendwo dort drin, während Ben – vergeblich – versuchte, sich möglichst ungesehen um das Piratenschiff herumzupirschen, ohne dass ihn sein Gekicher verriet.
Eine halbe Stunde zuvor hatten die Jungs einen Streit vom Zaun gebrochen. Jake hatte Ben geschubst, worauf Ben Jake an den Haaren gezogen hatte, worauf beide Jungs in Tränen ausgebrochen waren. Sie hatten dringend eine kleine Auszeit gebraucht, am besten im Freien. Also hatte Kate sie mit der Anweisung losgeschickt, sich im Schneidersitz unter einen Baum zu setzen, so weit voneinander entfernt, dass sie einander nicht sehen konnten. Allein im Wald zu sitzen, hatte ihnen fürchterliche Angst eingejagt, und Kate hatte ein schlechtes Gewissen deswegen gehabt, aber die Maßnahme hatte sich als voller Erfolg entpuppt. Danach waren sie lammfromm gewesen.
»Was wir fast immer machen«, sagte Kate. Sie saß mit einer Tasse Kaffee an einem metallenen Cafétisch. Außerdem hatte sie eine Flasche Mineralwasser bestellt, da die Jungs über kurz oder lang angelaufen kommen und »Ich hab Durst« schreien würden. Auf dem Tisch lag ihr – beschämend weit vorn aufgeschlagenes – Französischbuch.
Dexter sah zu, wie die Jungs sich weiter um das Piratenschiff schlichen. »Was machen sie da?«
»Sie spielen Spion«, murmelte Kate scheinbar unbeteiligt.
»Wie bitte?«
»Spion«, wiederholte sie, lauter diesmal. »Sie spielen Spion. Hab ich ihnen beigebracht.«
Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte er angespannt, dann rang er sich ein Lächeln ab und fragte: »Und wie geht das Spiel?«
»Siehst du die Servietten aus ihren Hosentaschen hängen?« Sie hatte eine weitere Verwendungsmöglichkeit für die dünnen Fetzen gefunden. Vielleicht sollte sie ein Buch darüber schreiben. 101 Einsatzmöglichkeiten für dünne Papierservietten. »Wer dem anderen die Serviette aus der Hose reißt, bekommt einen Punkt. Ziel ist es, sich von hinten an den Gegner anzuschleichen. Dafür sind eine gewisse Geduld, Planung und Sorgfalt notwendig.«
Dexter sah sich um und lächelte. »Hört sich ganz gut an.«
Die Sonne stand tief am Himmel, in einem beinahe winterlichen Winkel, obwohl es erst September war. Es war relativ warm, sodass die Jungs ohne Jacken spielen konnten. Doch Kate wusste, was die tief stehende Sonne zu bedeuten hatte – noch bevor sie unterging, würde das Wetter umschlagen. Das tat es
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