Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
Aktenschrank und überflog Kreditkartenauszüge, Versicherungspolicen und alte Handwerkerrechnungen, ehe sie zur zweiten Runde ansetzte und jedes Blatt Papier einzeln in die Hand nahm. Sie blätterte Gebrauchsanleitungen für Router, externe Festplatten und die Stereoanlage durch, von der sie sicher wusste, dass sie sie in Washington zurückgelassen hatten.
Sie machte sich einen Kaffee, setzte sich vor die unterste Schublade und ging noch einmal alles von hinten durch. Irgendwann stieß sie auf einen Aktendeckel, in dem eine zerknitterte und eingerissene Tabelle mit der Überschrift HYPOTHEKEN-REFINANZIERUNG lag. Darin, zwischen einem Blanko-Darlehensantrag und der Vermögensaufstellung, fand sie ihn – einen Vertragsentwurf zwischen Dexter Moore und der Continental European Bank.
Kate las zweimal die beiden Seiten durch, die nichts als gewöhnliche Vertragsklauseln zu enthalten schienen. Alles sah völlig normal aus.
Einen Moment lang ärgerte sie sich, weil Dexter ihr den Vertrag vorenthalten hatte. Andererseits hatte er es tun müssen, um die Identität der Bank vor ihr geheim zu halten.
Also verzieh sie ihm. Und schalt sich stattdessen selbst. Für ihr Misstrauen und ihre Schnüffelei, für das, was sie niemals hatte tun wollen, und für die Gefühle, die sie niemals hatte empfinden wollen.
Dann verzieh sie auch sich selbst und fuhr zur Schule, um die Jungs abzuholen.
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»Meine Eltern«, sagte Kate, »sind beide tot. Wir, meine Schwester und ich, haben sie innerhalb eines Jahres verloren.«
»Oh Gott«, sagte Julia. »Und wo lebt deine Schwester jetzt?«
»In Hartford, soweit ich weiß. Könnte aber auch New London sein. Wir haben keinen Kontakt mehr.«
»Streit?«
»Eigentlich nicht«, sagte Kate. »Emily ist Alkoholikerin. Und meistens auch noch drogenabhängig.«
»Igitt.«
»Als meine Eltern krank waren, hat sich niemand so richtig um uns gekümmert. Und Geld hatten wir auch nicht. Die Fabrik meines Vaters hatte dichtgemacht – er hat in einer Firma für Elektronikteile gearbeitet. Sie hatten beide nur einen Teilzeitjob und eine unzureichende beziehungsweise gar keine Krankenversicherung, als sie krank wurden. Das hat ihnen das Genick gebrochen. Die Art, wie mit ihnen umgesprungen wurde, war das Allerletzte. Unmenschlich.«
»Bist du deshalb ins Ausland gegangen?«
»Nein. Wir sind hergekommen, weil wir uns die Erfahrung nicht entgehen lassen wollten. Aber ich habe deshalb wohl immer noch einen Groll. Vielleicht ist Groll auch nicht das richtige Wort dafür, eher Enttäuschung. Versteh mich nicht falsch. Ich liebe Amerika. Nur eben nicht alles daran. Und meine Schwester ist eben durch die Maschen all dieser familiären Katastrophen gerutscht und selbst zur Katastrophe geworden.«
Während Emily ihren Kummer mit Alkohol und Drogen betäubt hatte, war Kate zum einsamen Workaholic geworden, eingehüllt in eine Blase der Taubheit, in der sie nichts und niemand mehr berühren konnte. Und sie hatte eine der Rollen entwickelt, in die sie in ihrem späteren Leben als Erwachsene schlüpfen wollte – die der Märtyrerin. Sie wollte diejenige sein, die sich um alles kümmerte, die eine Menge Geld verdiente und den Haushalt schmiss. Opfer bringen. Leiden. Erst als diese Facette ihrer Persönlichkeit verschwunden war, hatte sie gemerkt, wie sehr sie sie genossen hatte.
»Am Ende musste ich Emily sich selbst überlassen. Ich konnte mich nicht mehr um sie kümmern. Ihr war nicht zu helfen.«
»Und wie kommt es, dass man den Kontakt zu seiner eigenen Schwester verliert?«
»Kontakthalten war noch nie ihre Stärke. Als unsere Eltern tot waren und es auch sonst niemanden in der Familie gab, dem wir nahestanden, gab es keine Veranlassung mehr dazu. Ich musste einfach nur aufhören, sie anzurufen.«
Das stimmte nicht. Kate hatte noch Jahre nach dem Tod ihrer Eltern beharrlich den Kontakt aufrechterhalten, während ihrer gesamten Collegezeit und Emilys langsamem Niedergang. Als Kate dann der Firma beitrat, wäre die Beziehung zu Emily nicht nur zum privaten, sondern auch zum beruflichen Hindernis geworden; eine Verpflichtung, die gegen sie hätte verwendet werden können. Kate wusste, dass sie das letzte Fünkchen Mitgefühl, das sie für ihre Schwester gehegt hatte, aufgeben musste. Sie musste es abstreifen wie ein schmutziges Kleidungsstück, das zu verdreckt war, um es noch in die Wäsche oder in die Reinigung zu geben, das man nur noch in den Müll werfen konnte.
Im Lauf ihres ersten Jahres
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