Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
bei der Firma hatte sie ein paarmal von Emily gehört, jedoch nie darauf reagiert. Fünf Jahre später war ein Anruf gekommen: Emily brauchte jemanden, der eine Kaution für sie hinterlegte. Doch Kate war zu diesem Zeitpunkt in El Salvador gewesen und hatte ihr nicht helfen können. Und als sie in die Staaten zurückgekehrt war, hatte sie es nicht gewollt.
»Und in Dexters Familie«, fuhr Kate fort, »lief es auch nicht viel besser. Seine Mutter Louise ist tot und sein Vater in zweiter Ehe verheiratet. Mit einer fürchterlichen Schreckschraube. Und sein Bruder ist ebenfalls tot.«
»Sein Bruder? Das ist ja entsetzlich.«
»Daniel. Er war ein ganzes Stück älter als Dexter. Louise und André waren bei seiner Geburt fast selbst noch Kinder. Ende der Achtziger ging Daniel zur Marine. Ein paar Jahre danach hat er als Militärberater auf dem Balkan angefangen.«
»Wow.«
»Seine Leiche wurde in einem Hinterhof in Dubrovnik gefunden.«
»Mein Gott«, sagte Julia tonlos. Die Eröffnung schien sie erstaunlich wenig zu verblüffen. Oder sie war vollkommen schockiert. Kate wusste nicht, was davon zutraf.
»Ja.« Sie wechselte den Tonfall. »Das war wohl eine ziemlich ausführliche Antwort auf deine Frage, ob ich meine Familie vermisse.«
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Nachdem Kate ihre Familiengeschichte erzählt hatte, schilderte Julia, wie sie Bill kennengelernt hatte. Sie hatte ihre Dienste als Innenarchitektin für eine Benefizauktion zur Verfügung gestellt, um mehrere Fliegen – Wohltätigkeit, Kontakteknüpfen und Kundenakquise – mit einer Klappe zu schlagen. Und Bill tat, was alle jungen Finanztypen taten: Er gab Unsummen dafür aus, die richtige Frau fürs Leben zu finden – also eine dieser attraktiven, unverheirateten Mittzwanzigerinnen, denen man bevorzugt auf Benefiz-Cocktailpartys für fünfhundert Dollar Eintritt pro Nase begegnete, wo sie Geld für Vorschulkinder aus benachteiligten Familien sammelten.
Bill nahm an, Julia falle in diese Kategorie. Als sie ihn drei Stunden später über seinen Irrglauben in Kenntnis setzte, lagen sie im Bett und waren beide nackt – ein Umstand, den Julia bewusst vorangetrieben hatte, da sie ihr Glück kaum fassen konnte, dass dieser unglaublich attraktive Mann Interesse an ihr zeigte.
»Und im Lauf der Jahre«, fuhr sie fort, »habe ich festgestellt, dass Männer mich viel interessanter finden, wenn ich nackt bin.« Kate hatte keinen Zweifel daran, dass Julia das ernst meinte.
Sie bogen auf den überfüllten Parkplatz eines riesigen Supermarkts und liefen durch den strömenden Regen zum Eingang.
»Mist.« Julia kramte in ihrer Handtasche. »Ich muss mein Telefon bei dir im Wagen liegen gelassen haben. Macht es dir etwas aus, wenn ich es kurz hole?«
»Ich komme mit«, bot Kate an.
»Nein, nein, geh ruhig schon rein, ich komme gleich nach. Bei dem Regen.«
Kate holte die Wagenschlüssel aus ihrer Tasche und gab sie ihr. »Bitte.«
»Danke.«
Kate stand am Fenster und blickte auf den Parkplatz, die Hauptstraße und die Tristheit der regennassen Vorstadt hinaus. Ein Supermarkt reihte sich an den anderen, alle voller Kram, den sie eigentlich überhaupt nicht brauchte. Dieser Abstecher war ein Fehler gewesen. Sie hätten lieber Kaffee trinken gehen oder einen Ausflug nach Deutschland oder Frankreich machen sollen.
Inzwischen hatte sich Reisen zu einer von Kates Lieblingsbeschäftigungen entwickelt. Unmittelbar nach ihrer Rückkehr aus Kopenhagen, ihrem ersten Wochenendziel nach dem Umzug, hatte sie neue Orte recherchiert, die sich für einen Familienausflug eigneten. Nächstes Wochenende würden sie nach Paris fahren.
»Danke«, sagte Julia und schüttelte das Wasser aus ihrem Regenschirm. Sie gab Kate die Wagenschlüssel, ein unergründliches Lächeln auf den Lippen.
Heute, 11:02 Uhr
Kate schafft es zur nächsten Ecke und biegt in die Rue de Seine – außer Sichtweite der Rue Jacob und für jeden, der sie dort beobachtet haben könnte –, ehe sie sich gestattet, einen Moment stehen zu bleiben. Sie bemerkt, dass sie die ganze Zeit den Atem angehalten hat, und spürt, wie sie langsam panisch wird.
Seit über einem Jahr lebten sie bereits in Paris, unbemerkt, unauffällig, ohne Aufmerksamkeit oder Verdacht zu erregen. Eigentlich sollten sie doch in Sicherheit sein.
Was machte diese Frau jetzt also plötzlich hier?
Ihre Angst wird so übermächtig, dass sie noch einmal stehen bleiben muss, unter dem Bogen einer hohen, schweren Holztür. Sekunden später öffnet sie sich,
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