Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
entgehen. Sie brauchte eine große Aufgabe, um diese gähnende Leere in ihrem Innern zu füllen, ihr Potenzial zu bündeln und zu nutzen. Die Vorstellung war so romantisch, dass sie nicht widerstehen konnte. Eine wahre Fülle an Möglichkeiten schien sich aufzutun.
Also ließ sie – wenn auch mit hinter dem Rücken gekreuzten Fingern – den ideologischen Drill über sich ergehen und akzeptierte, dass sie eine wichtige Rolle im Kampf gegen die Todfeinde ihres Landes spielen würde. Amerika mochte nicht perfekt sein, doch es brauchte den Vergleich mit Kuba, Nicaragua oder Chile keineswegs zu scheuen, von den Ruinen der ehemaligen Sowjetunion, dem lauernden Ungeheuer China oder selbst den stagnierenden, ineffektiven Sozialdemokratien Westeuropas ganz zu schweigen. Die Vereinigten Staaten waren die einzige noch verbliebene Supermacht, und schließlich will doch jeder für die Yankees spielen. Zumindest fast jeder.
Kate fand sehr schnell ihren Platz innerhalb der straffen Strukturen ihrer neuen Familie, der Leitung des Bereichs Operationen. Sie arbeitete neben Menschen, die genauso waren wie sie – klug und engagiert, aber nicht besonders begabt darin, intime Beziehungen zu anderen aufzubauen. Sie liebte ihre Arbeit, auch wenn ihr einige Aspekte den kalten Schweiß auf die Stirn trieben. In der Abteilung »Geheime Operationen« blühte Kate auf.
Irgendwie gelang es ihr, für Dexter einen Platz in ihrem Leben zu schaffen, und kurz danach auch für die Kinder. Je wichtiger diese neue – reale – Familie wurde, desto problematischer wurden ihre Geheimnisse. Sie waren ein ständig nagendes Unbehagen, eine Arthritis der Psyche. Sie musste ihr altes Leben beiseiteschieben, dieses Leben, in dem für Gefühle wie Liebe kein Platz war. Sie brauchte die Firma immer weniger, ihren Mann und ihre Kinder hingegen immer mehr.
Sie begann ihre alte Identität zu opfern, um mit ihrer neuen leben zu können. Schließlich war das neue Leben das, was jeder wollte.
6
»Es ist wie im ersten Jahr auf dem College, nicht?«
Dexter spuckte eine dicke Zahnpastaschaumwolke aus. »Inwiefern?«
Kate sah ihren Mann im Spiegelschrank an, dessen drei Türen offen standen und eine Collage aus verzerrten Bildern schufen – Badezimmerkubismus.
»Du lernst all die neuen Leute kennen und versuchst herauszufinden, wer dein Freund, wer dein Feind und wer der Loser sein wird, vor dem du auf der Party flüchtest.« Sie nahm die Zahnbürste, die ihr im Mundwinkel hing, und schob sie auf die andere Seite. »Man stellt sich vor, mit wem man Zeit verbringen, wohin man zum Kaffeetrinken gehen wird, all das. Und jeder ist im Grunde in derselben Situation. Jeder findet seinen Platz im Gefüge.«
»Das mag nach College klingen«, meinte Dexter, »aber mein Leben ist völlig anders. Ich sitze den ganzen Tag allein im Büro und starre auf den Bildschirm.« Er ließ Wasser in seine Hand laufen, um den Schaum aus dem Becken zu spülen. Dexter war ein ordentlicher, reinlicher Mann, ein rücksichtsvoller Mitbewohner. »Es geht nicht darum, neue Freundschaften zu schließen.«
Auch Kate spülte sich den Mund aus.
»Kannst du dir vorstellen«, fuhr Dexter fort, »dass ich heute buchstäblich mit keinem einzigen Menschen geredet habe? Außer mit der Verkäuferin in der Bäckerei, in der ich mein Sandwich kaufe. Un petit pain jambon-fromage, merci . Das sage ich jeden Tag.« Er wiederholte den Satz, wobei er die einzelnen Worte mit der Hand abzählte. »Sechs Wörter, zehn Silben. Zu einer Wildfremden.«
Auch Kate hatte noch immer keine Freunde gefunden. Sie kannte einige Leute mit Namen, doch als Freunde würde sie sie nicht bezeichnen. Nun, da Dexter seine Einsamkeit eingestanden hatte, würde sie sich blöd vorkommen, dasselbe zu tun. »Ich habe heute mit einer Frau zu Mittag gegessen«, sagte sie stattdessen. »Sie heißt Julia. Es war eine Art Blind Date.« Kate legte die Augencreme in den Schrank zurück, neben den Parfumflakon aus Kristallglas, der eigentlich nur zur Zierde dastand. Als sie das letzte Mal Parfum benutzt hatte, war sie noch auf dem College gewesen. Ein hoffnungsfroher Verehrer hatte ihr zum Valentinstag ein Fläschchen geschenkt. Doch in ihrer Branche vermied man es tunlichst, sich zu parfumieren – jemand könnte den Duft wiedererkennen und ihn einem Agenten zuordnen.
»Stell dir vor, sie ist aus Chicago.«
Dexter erwiderte Kates Blick im Spiegel. »Aber kannst du dich denn dann mit ihr anfreunden, Kat?« Er ließ keine
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