Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
und eine winzige, alte Frau in einem makellos sauberen Bouclé-Anzug und mit einem Gehstock in der Hand tritt heraus. Sie starrt Kate auf diese typisch unverblümte Art ins Gesicht, die alle alten Französinnen gemeinsam zu haben scheinen.
»Bonjour!«, kreischt sie unvermittelt, worauf Kate vor Schreck beinahe umkippt.
»Bonjour«, sagt Kate und blickt an der Frau vorbei in den begrünten Innenhof am anderen Ende des zugigen Durchgangs, dessen Wände ein Gewirr aus Briefkästen, elektrischen Leitungen, losen Drähten, Mülltonnen und abgeschlossenen Fahrrädern ziert. Der Eingang des Hauses, in dem sie wohnt, sieht ganz ähnlich aus – es gibt Tausende dieser Durchgänge hier in Paris, jeder einzelne der perfekte Ort, um jemanden zu töten.
Gedankenverloren geht Kate weiter. Vor den großen Fenstern einer Kunstgalerie bleibt sie stehen. Zeitgenössische Fotografie. Sie betrachtet im Schaufenster die Gesichter der Menschen, die vorübergehen, überwiegend Frauen, die ebenso gekleidet sind wie sie, mit den dazu passenden Männern im Schlepptau.
Ein Mann mit schlecht sitzendem Anzug und hässlichen Schnürschuhen mit Gummisohlen schlendert an ihr vorbei. Sie sieht ihm nach, als er um die nächste Ecke verschwindet.
Kate sieht durch das Schaufenster ins Innere der Galerie, in der ein halbes Dutzend Leute in leeren, aneinander angrenzenden Zimmern sitzt. Die Tür ist einen Spaltbreit geöffnet, sodass die frische Herbstbrise hereinwehen kann. Bestimmt geht es dort drinnen ziemlich laut zu. Laut genug für Kate, um telefonieren zu können, ohne dass es jemand mitbekommt.
»Bonjour«, sagte sie zu dem schicken Mädchen am Empfangstresen.
»Bonjour, Madame.«
Kate spürt den abschätzigen Blick des Mädchens, der über ihre Schuhe, ihre Handtasche, ihren Schmuck und ihren Haarschnitt schweift. Wenn diese Pariser Verkäuferinnen eines beherrschen, dann ist es die Kunst, in Sekundenbruchteilen zwischen einer potenziellen Kundin und einer Frau zu unterscheiden, die sich »nur mal umsehen« will oder bestenfalls das billigste Teil im Laden nehmen wird. Kate weiß, dass sie den Test bestehen wird.
Sie lässt den Blick über die großformatigen Drucke im vorderen Raum schweifen: semiabstrakte Landschaften, exakt begrenzte Äcker und Felder, endlose Reihen modernistischer Fassaden, unbewegte Wasseroberflächen. Landschaften, wie man sie überall auf der Welt findet.
Pflichtschuldig betrachtet sie jedes einzelne Foto mehrere Sekunden lang, ehe sie in den nächsten Raum weitergeht, in dem Drucke mit Strandmotiven ausgestellt sind. Ein junges Pärchen steht vor einem der Fotos und unterhält sich lautstark auf Spanisch. Kate registriert den Madrider Akzent.
Sie zieht ihr Handy aus der Handtasche.
Die ganze Zeit über ist es ihr gelungen, so zu tun, als würde sie die Frau niemals wiedersehen. Doch sie hat nie ernsthaft daran geglaubt. Tief im Innern wusste sie stets, dass sie ihr eines Tages wieder begegnen würde.
Ist dies Dexters Vergangenheit, die ihn einholt?
Sie drückt die Kurzwahltaste.
Oder ihre eigene?
7
Während ihres Parisbesuchs verbrachte Kate ihre freien Stunden im Marais. Dexter und sie waren sich einig, dass sie die Stadt ruhig für eine Weile auf eigene Faust erkunden sollte. Wenn man nicht zu sehen bekam oder tun konnte, was man wollte, machte Reisen nur halb so viel Spaß, dann war es wie Arbeit, nur an einem anderen Ort und unter anderen Voraussetzungen.
In Kopenhagen hatte Kate die ihr zugeteilten Stunden damit gefüllt, durch die Boutiquen in der Innenstadt zu schlendern. Und nun, auf ihrem Streifzug durch das Village St. Paul, hatte sie Geschirrtücher, einen silbernen Eiskübel mit Gravur und einen emaillierten Salzstreuer erstanden – Haushaltswaren mit altmodischem Pariser Chic. Und sie hatte sich ein Paar Leinenschuhe mit dicken Gummisohlen gekauft, um für das Luxemburger und das Pariser Kopfsteinpflaster gerüstet zu sein.
Der Himmel war strahlend blau mit vereinzelten Schäfchenwolken. Altweibersommer, angenehme einundzwanzig Grad.
Sie schlug den Weg zum Fluss ein, zur Île Saint-Louis, wo sie sich mit Dexter und den Jungs treffen würde. Nach vier Stunden Alleinsein sehnte sie sich nach ihnen, musste ständig an ihre Gesichter, ihre lächelnden Augen denken und spürte ihre dünnen, drahtigen Arme um ihren Hals.
Sie betrat die Brasserie, konnte ihre Familie jedoch nirgendwo entdecken. Sie setzte sich ins Freie und blinzelte gegen die Sonne an. Nach einer Weile sah sie sie von
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