Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
musste Dexter erst einmal nach Hause kommen. Und dann wieder wegfahren.
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»Hallo, Leute!«, rief Dexter von der Tür und schwenkte eine Flasche Champagner.
»Daddy!« Die Jungs kamen in die Halle gestürmt, mit wild schlenkernden Armen und Beinen wie zwei Marionetten, und warfen sich ungestüm in seine Arme. Kate hatte sie an den mit Zeitungspapier ausgelegten Esstisch gesetzt und ihnen Wasserfarben, Pinsel und Wasserbecher hingestellt. »Was ich gern in den nächsten Ferien machen möchte«, lautete das Motto. Kate hatte den Anfang gemacht und eine Winterszene gemalt – der erste Schritt ihrer Kampagne, ihre Pläne für die bevorstehenden Weihnachtsferien zu kippen, und zugleich eine Möglichkeit, sich mit den Jungs zu beschäftigen. Die Jungs pinselten ihre eigenen winterlichen Bilder, die Kate anschließend mit Magneten an den Kühlschrank hängte. »Manipulatives Miststück« – das wäre wohl eine treffende Bezeichnung für sie.
»Wofür ist die denn?« Kate deutete mit dem Messer auf die Flasche mit dem üppig verzierten Goldetikett, auf der sich dicke Kondensperlen gebildet hatten.
»Daddy, schau mal, was ich gemalt habe!«
»Gleich, Jake.« Dexter wandte sich an Kate. »Wir haben etwas zu feiern. Ich habe – wir haben – heute zwanzigtausend Euro verdient.«
»Wie bitte? Das ist ja toll! Wie das denn?« Kate war zu dem Entschluss gelangt, dass sie mit schnippisch-argwöhnischen Bemerkungen nicht weiterkommen würde; vielmehr musste sie so entspannt und gut gelaunt wie möglich wirken.
»Erinnerst du dich an diese Derivate, von denen ich dir erzählt habe?«
»Nein. Was ist das überhaupt?«
Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und öffnete ihn erneut. »Egal. Jedenfalls habe ich heute eine ganze Reihe von Investments liquidiert, und die zwanzig Riesen sind als Profit herausgesprungen.« Dexter öffnete die Schränke und sah suchend hinein. Er wusste offenbar nicht einmal, wo die Champagnergläser standen.
»Da drüben.«
Er ließ den Korken knallen und schenkte den Champagner in die Gläser. Schaum stieg auf und fiel langsam in sich zusammen. »Prost.«
»Prost«, sagte sie. »Und Glückwunsch.«
»Daddy! Bitte!«
Sie trug die Flasche ins Esszimmer. Dexter setzte sich an den Tisch und versuchte die Figuren auf den – reichlich abstrakten – Wasserfarbengemälden der Jungs zu erkennen.
Er sah glücklich aus. Wieso nicht jetzt gleich?, dachte sie. »Ich habe mir überlegt, ob wir dieses Jahr Weihnachten vielleicht doch nicht nach Südfrankreich fahren sollten, sondern lieber in die Alpen. Zum Skifahren.«
»Junge, Junge« – seine Standardeinleitung, wenn er einen seiner Scherze machte – »wenn es nach dir geht, soll dieses Geld wohl schon ausgegeben werden, bevor es überhaupt da ist, was?«
»Nein, darum geht es nicht. Ich habe schon vorher darüber nachgedacht … die Hotelreservierungen könnten wir noch stornieren, und in einigen Skiorten gibt es noch freie Zimmer.«
»Aber Südfrankreich«, wandte er ein, »gehört zu unseren Top Five.«
Zu den Top Five gehörten im Moment Paris, London, die Toskana, die Costa Brava und »Südfrankreich« – was Riviera bedeuten konnte oder Provence, vielleicht sogar Monaco, auch wenn das faktisch nicht zu Frankreich gehörte.
Dexter hatte Kate vor ein paar Wochen in London von der Liste erzählt. Die internationale Privatschule ihrer Kinder hatte wegen irgendeines britischen Feiertags geschlossen, deshalb waren sie mit der Frühmaschine zum City Airport geflogen, hatten um zehn Uhr morgens ihre Reisetasche im Hotel abgestellt und sich im unwirtlichen Spätherbstwetter auf den Weg durch die Stadt gemacht.
Vor den majestätischen Kalksteinbauten am Wilton Crescent, dem Halbrund am oberen Ende des Belgrave Square, waren sie stehen geblieben – Überwachungskameras überall. Dexter hatte darauf bestanden, dass sie dort haltmachten, nur war ihr damals nicht klar gewesen, weshalb.
Sie sah den Jungs nach, die den Bürgersteig entlangrannten, völlig begeistert von dem Bogen, den die Straße beschrieb. Es brauchte so wenig, um sie in Begeisterung zu versetzen.
Am Straßenrand standen ein alter Rolls und ein nagelneuer Bentley, echte Prachtstücke aus schwarzem, auf Hochglanz poliertem Lack und blitzendem Chrom. Dexter warf einen Blick auf eine Hausnummer, ehe er ein paar Schritte weiterging und vor dem nächsten Haus stehen blieb. »Vielleicht werden wir ja eines Tages hier leben.«
Sie lachte. »So viel Geld werden wir nie
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