Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
gemacht. Und was die Schwestern getan haben oder nicht, war sicher nur zu deinem Besten.«
Sie wusste nicht, ob sie sich mit ihrer Mutter streiten sollte. Vor einem Jahr hätte sie es getan. Vor einem Jahr wäre sie vor Wut an die Decke gegangen. Jetzt zuckte sie lediglich mit den Schultern. »Ich fahre morgen nach London«, sagte sie.
»Aber du bist doch gerade erst nach Hause gekommen. Immer diese Herumhetzerei. Ich weiß nicht, was mit dir los ist. Hat es was mit diesem Franzosen zu tun?«
»Es hat nichts mit ihm zu tun. Es geht um Ned. Ich will Ned besuchen.«
X
»Fawley.«
Ned trat halbherzig gegen einen Stein. »Was ist mit ihm?«
Sie waren in den Park auf dem Russell Square gegangen. Sie wollte nicht in seiner Wohnung sein. Sie wollte nicht eingepfercht sein, gefangen, wie ein Kaninchen in der Falle. Sie wollte draußen im Freien sein, wo sie frische Luft atmen konnte. Sie musste tief atmen, die Wut hinauslassen, damit so etwas Ähnliches wie Ruhe sie ersetzen konnte.
»Dann kennst du ihn also?«
»Ich bin ihm mal begegnet.«
»Wie? Wann?«
»Er war daran beteiligt, Kowarski und von Halban aus Frankreich rauszuschaffen, 1940.«
»Und wer ist er? Und wieso interessiert er sich so für Clément?«
»Es hat mit den Kriegsanstrengungen zu tun.«
»Alles hat mit den Kriegsanstrengungen zu tun, Ned. Du hast mit den Kriegsanstrengungen zu tun, ich hab mit den Kriegsanstrengungen zu tun. Du musst entweder ein Kind oder vergreist sein, um nichts damit zu tun zu haben.« Sie sah sich im Park um. Das umlaufende Gitter war entfernt worden, und man hatte den Rasen umgegraben, um Gemüse anzupflanzen. »Selbst dieser verdammte Park hat mit den Kriegsanstrengungen zu tun.«
»Äffchen, du hast ja richtig fluchen gelernt. Das ist nicht sehr damenhaft.«
»Ich bin nicht damenhaft. Das Damenhafte haben sie mir in Schottland ausgetrieben. Sie haben mir beigebracht, wie man tötet, Ned. Ist dir das eigentlich klar?« Ihre Stimme wurde lauter. »Ja?«
»Ich schätze, das gehört nun mal zur Ausbildung dazu. Wieso sollten nur Männer töten lernen?«
Sie sah ihn an. Früher einmal hätte sie ihm ihr Leben anvertraut; inzwischen waren die Dinge nicht mehr so eindeutig. Sie kannte ihn nicht mehr, das war das Problem. Der Ned von früher war eine Kindheitserinnerung – unscharf, verzerrt durch die Zeit. »Dieser Fawley hat sich mit mir getroffen und nur über Clément gesprochen. Was ist so wichtig an Clément, Ned? Ich will das wissen. Verdammt noch mal, Fawley und sein Handlanger sind extra nach Oxford gekommen, um mir ein Angebot zu machen. Sie haben sich als Alternative zu der Organisation, die mich rekrutiert und ausgebildet hat, vorgestellt.« Sie merkte, dass sie zwischen Tränen und Wut schwankte, wie eine Wippe auf dem Kipppunkt, doch in welche Richtung sie auch ausschlug, die Folge war unweigerlich ein Sturz. »Ich hab keine Ahnung, was zum Henker da vor sich geht, und keinerlei Möglichkeit, es rauszufinden. Diese Leute wollen, dass ich etwas für sie tue, und ich will wissen, worum es dabei geht. Du weißt es, und du verrätst es mir nicht. Himmelherrgott, ich bin deine Schwester, Ned.«
Er blickte sie nachdenklich an. »Ich fürchte, ich kann es dir nicht sagen. Es würde dich in Gefahr bringen, wenn du es wüsstest.«
»Was für ein blöder, wichtigtuerischer Spruch! Ich bin kein Kind mehr, Ned. Ich stecke bis zum Hals in Sachen, die genauso geheim sind wie das, was du treibst. Und wieso ist es für dich nicht gefährlich, Bescheid zu wissen, für mich aber schon? Typisch Mann. Das liebe kleine Frauchen darf es nicht wissen, aber ich.«
»Blödsinn. Du gehst nun mal nach Frankreich. Du weißt, wie riskant das ist.« Er schüttelte den Kopf. »Du darfst es einfach nicht wissen, Äffchen. Ehrlich.«
»Aber du schon?«
»Ich hatte keine Wahl. Ich hab dem Team angehört, das Kowarski und von Halban befragt hat, als sie 1940 aus Frankreich kamen. Ich hatte doch vor dem Krieg ein Jahr am Collège verbracht. Ich weiß alles über ihre Arbeit.«
Sie sah ihren Bruder plötzlich ganz klar, in einem hellen, weißen, enthüllenden Licht. »Du hast Anweisung, mir das alles zu erzählen, nicht? Du arbeitest mit denen zusammen, nicht?«
Er zögerte kaum. »Selbstverständlich.«
Sie sah sich in dem zerstörten Park um. Was hatte Neds Antwort zu bedeuten? Waren sie nicht mehr Bruder und Schwester? Musste sie nun sogar ihre Beziehung zu ihrer eigenen Familie durch das verzerrende Prisma aus Geheimhaltung und
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