Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
bodenständigen, herbstlichen Geruch nach Schweiß. Morgens steht sie meistens so früh auf wie ihre Gastgeber, frühstückt rasch und schwingt sich aufs Rad, um nach Lussac zu fahren. Auf der halbstündigen Fahrt durch die dunkle Landschaft traktiert der kalte Wind ihr Gesicht, und die Reifen drohen in den Kurven wegzurutschen. Im Ort angekommen, stellt sie das Rad bei Gabrielle Mercey ab und eilt dann zur Bushaltestelle am Markt. Um im Bus einen Sitzplatz zu ergattern, muss sie kämpfen – mit Ellbogen und Knien –, gegen Frauen mit Körben und Männer mit Aktentaschen, und wenn sie schließlich sitzt, steckt sie die Nase in ein Buch und hofft, dass niemand sie anspricht. Noch immer kann sie kaum glauben, dass ihr die Worte britische Agentin nicht auf der Stirn geschrieben stehen. Als ein Gendarm einsteigt und sich durch das Gedränge stehender Fahrgäste schiebt, um von allen die Papiere zu kontrollieren, ist sie überzeugt, dass er so blöd nicht sein kann und ihre Täuschung auf Anhieb durchschauen muss.
» Merci, Mam’selle«, sagt er und gibt ihr den Ausweis zurück. Seine Augen huschen zum obersten Knopf ihres Kleides und dem kleinen Schatten eines Dekolletés, der sich dort andeutet. Als Frau hat sie diesen Vorteil, dass Vertreter der Obrigkeit auf Dinge achten, die eindeutig nicht falsch sind, und gleichzeitig andere Täuschungsmöglichkeiten ignorieren. Sie lächelt zu ihm hoch. Sie hat dieses Lächeln gelernt. Es ist kühl und reserviert, eine Höflichkeitsbekundung, die die Möglichkeit einer weiteren Unterhaltung ausschließt. Es ist außerdem falsch.
Der Bus bringt sie in eine Nachbarstadt, wo sie Nachrichten zu überbringen und Informationen entgegenzunehmen hat, die sie dem Patron übermittelt. Nachrichten an den Patron gehen häufig von ihm weiter an die Funkerin des Rings, die Pianistin, eine Frau, die nur unter ihrem Decknamen bekannt ist: Georgette. Alice bekommt sie kaum je zu Gesicht. Georgette lebt in einer Schattenwelt, bewegt sich von Unterschlupf zu Unterschlupf in verschiedenen Dörfern, wo sie auf Dachböden und in Scheunen und Hinterzimmern hockt und verschlüsselt und entschlüsselt; oder sie sitzt an ihrem Funkgerät und schickt Nachrichten in der seltsamen Insektensprache des Morsens nach London; oder sie lauscht über Kopfhörer dem Stakkatosurren im Äther, das – so unwahrscheinlich die Vorstellung auch ist – von einer Morsetaste erzeugt wird, die eine FANY -Funkerin in Südengland bedient, wo sie mit zwanzig anderen FANY s in einem Raum in einem anderen Haus auf dem Lande sitzt, und zwar bei Grendon Underwood, einem Dorf circa zwanzig Meilen von Oxford entfernt. Nicht einmal der Patron weiß immer, wo Georgette ihre Aufgabe erfüllt. Je weniger du weißt, desto besser, lautet seine Devise. »Aus dem Grund sind wir noch da«, erklärte er bei seinem ersten Treffen mit Alice.
Das réseau von WORDSMITH deckt einen großen Bereich vom Südwesten des Landes ab und überlappt sich stellenweise mit anderen Ringen, anderen Widerstandsgruppen. Die Gebietsgrenzen eines jeden Rings sind unscharf und häufig nicht mal den Leitern genau bekannt. Wenn Alice weitere Fahrten unternimmt, zum Beispiel in den Süden nach Toulouse oder in den Norden nach Limoges, nimmt sie den Bus zum nächsten Bahnhof und steigt in den Zug. In diesen Fällen gilt es, größere Hürden zu überwinden, da die Bahnhöfe von der französischen milice oder dem deutschen Militär überwacht werden und die Ausweiskontrolle gründlicher ist als in den Bussen.
»S’il vous plaît, Madame«, sagt ein deutscher Offizier und streckt die Hand aus.
Sie gibt ihm ihre Papiere und wartet. Wie würde sie sich verhalten, wenn sie völlig unschuldig wäre? Den Dreh musst du raushaben. Was würde Anne-Marie Laroche tun? Sie würde über die Schulter des Offiziers schauen, geräuschvoll einatmen und dann die Luft in einer kleinen ungeduldigen Explosion ausstoßen. »Der Zug kommt«, sagt sie. »Ich möchte ihn nicht verpassen.«
Den Mann lässt ihre Sorge kalt. Er deutet auf den aufgebockten Tisch hinter ihm. »Den Koffer, bitte.« Andere gehen unbehelligt vorbei, Schwarzhändler mit Koffern voller Lebensmittel dürfen durch, während sie für diesen jungen Mann ihren Koffer öffnet, damit er zwischen ihrem Ersatzkleid und ihrer Nacht- und Unterwäsche, ihrem Waschzeug und ihren wenigen Schminkutensilien herumstöbern kann. Einen Moment lang verweilen seine Hände bei einem ihrer Schlüpfer. Er blickt nachdenklich zu ihr
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