Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Leben in diesen Bergen und Wäldern verbracht hat und sie so gut kennt wie ein Fuchs sein Revier. Sein moralisches Leben ist frei von Komplexität: Er weiß, was gut ist und was schlecht, und zwischen diesen beiden Polen gibt es nichts von Bedeutung. Zum Glück ist Alice gut. Er blickt sie über den Tisch in dem schmalen Esszimmer des Bauernhauses an und grinst und sagt ihren Namen: »Anne-Marie«, als wäre er etwas Wundersames.
Albert und Sophie haben noch einen Sohn, der in Deutschland in irgendeiner Fabrik arbeitet. Alle zwei Wochen erhalten sie einen Brief von ihm – ein paar Zeilen auf einem Standardformular: Meine lieben Eltern, mir geht es recht gut, danke. Wir arbeiten schwer, werden aber gut behandelt. Ich hoffe, bei Euch auf dem Hof ist alles wohlauf. Grüßt Ernest von mir. Herzlich, Euer Sohn Hugues . In dem Stil. Ernest zeigt Alice einen dieser Briefe, deutet dann auf seinen Namen, den er erkennt, obwohl er nicht lesen kann. »Ernest«, sagt er mit Nachdruck, für den Fall, dass sie Hilfe braucht. Ironischerweise hat gerade die Eigenschaft, von der man meinen könnte, sie würde Ernest als Bauernsohn nutzlos machen – seine geistige Behinderung –, seine Nützlichkeit sichergestellt: Wegen seiner Geistesschwäche wird er niemals zum Service du travail obligatoire herangezogen und kann daher seinem Vater auf dem Hof helfen.
Albert ist ein schweigsamer Mann mit einem trockenen Humor. Manchmal scheint die Besatzung in seinen Augen nichts weiter zu sein als eine groteske Laune der absurden Natur, wie ein wahlloses Unwetter, das die Ernte auf seinen Feldern vernichtet, oder eine Seuche, die seine kleine Herde Milchkühe hinwegrafft. Seine Frau Sophie ist anders. Mit ihrer warmherzigen und ruhigen Art wird sie für Alice schon bald zur Ersatzmutter. In Alice’ Vorstellung ist der Name Sophie mit Sanftheit verknüpft. Natürlich weiß sie, dass der Ursprung des Namens im griechischen Wort für Weisheit liegt, aber Sophie ist mit ihrem großen Busen und ihrer mütterlichen Ader für sie sozusagen die Verkörperung von Sanftheit. Sie hat ihr pays , ihre Region, nie verlassen, Albert dagegen ist herumgekommen. Wie vielen Männern seiner Generation hat der Krieg seinen Horizont erweitert, ihm zum ersten Mal gezeigt, dass er Bürger von etwas war, das bis zu diesem Moment kaum mehr als eine nebulöse Idee war: La République Française . Zwei Jahre als poilu in den Schützengräben von Verdun haben ihn gelehrt, dass Frankreich sein Land ist und Deutschland der Feind. Er bezeichnet die Deutschen als Frisés oder Fritz, Ausdrücke, die er und seine Kameraden im Ersten Weltkrieg benutzten, oder manchmal auch als Doryphores . Doryphores sind Käfer, Schädlinge, die schon ganze Ernten vernichtet haben, genau wie die Besatzungstruppen ihnen die Früchte ihrer Arbeit wegnehmen, um sich davon zu ernähren. An öffentlichen Gebäuden in den Städten und Dörfern hängen Plakate, mit denen die Bauern vor Doryphores gewarnt werden. Vernichtet diese Schädlinge! , lautet der Aufruf. Die Leute finden das noch immer amüsant, obwohl der Witz schon alt ist.
Alice’ Zimmer ist oben unter dem Dach. Durch ein niedriges Fenster könnte sie nach unten auf das Dach der Milchkammer hinter dem Gebäude klettern. Von da wäre ein Sprung in den Garten möglich, dann durch einen Zaun und die ansteigende Wiese hinauf, die hinter dem Gehöft liegt. Innerhalb weniger Sekunden könnte sie den Wald erreichen, der den Berg überzieht. Es scheint unvorstellbar, dass irgendwer je in diese kleine Welt aus Feldern und Wiesen und Wäldern eindringt, aber sie hat dennoch einen Fluchtweg erkundet, so wie es ihr beigebracht worden ist.
»Sie müssen nicht mithelfen«, sagte Sophie, als sie anbot, ihr im Haus zur Hand zu gehen. »Sie haben genug Arbeit.«
Was glauben sie wohl, was sie vorhat? Sie stellen ihr keine Fragen, und doch tischt sie ihnen Lügen auf: Sie ist Anne-Marie Laroche, Literaturstudentin frisch aus Paris. Ihr einziger Angehöriger ist ein Bruder in Algier. Sie hat ihre Kindheit teils in der Schweiz und teils im Haute-Savoie verbracht. Sie ist fünfundzwanzig Jahre alt. Das erzählt sie ihnen, wenn sie ihnen was erzählt. Was sie denken, steht auf einem anderen Blatt.
Das ländliche Leben hat aus ihr eine Landfrau gemacht. Sie steckt sich irgendwie die Haare hoch. Sie schminkt sich nicht. Sie lässt Beine und Achseln unrasiert. Sie benutzt kein Parfüm. Irgendein perverser Teil von ihr mag den Geruch, den sie annimmt: den
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