Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Zeiten der Not. »Du wirst so hübsch aussehen, wie eine schicke Pariserin«, sagt sie. »Ich kann mir gut vorstellen, wie du im Jardin du Luxembourg flanierst, in einem Café auf den Champs-Élysées sitzt und die Männer anlockst.«
»Ich glaube nicht, dass ich für so was Zeit haben werde.«
»Vielleicht nach dem Krieg. Vielleicht können wir dann zusammen nach Paris.«
»Vielleicht.« »Nach dem Krieg« kommt ihr vor wie etwas frei Erfundenes, so wie das Paradies etwas Erfundenes ist, eine Zeit und ein Ort grenzenlosen Überflusses, des Friedens und der Harmonie und des ewigen Lichts. Ein Gegenentwurf zur Theologie des Schreckens.
Alice blickt auf ihren gepackten Koffer und überlegt, wie sie die beiden Elektroröhren am besten verstaut. Wenn ihr versucht, etwas zu verstecken, das dann entdeckt wird, sitzt ihr erst so richtig in der Scheiße, wie es einer der Ausbilder in Beaulieu ausdrückte. Macht lieber große unschuldige Augen, wenn ihr das halbwegs hinkriegt. Also wickelt sie die Röhren in einen Waschlappen und packt sie zwischen ihre Kleidung. Wenn sie in eine barrage kommt und die Röhren gefunden werden, wird sie eben bluffen müssen. Aber bei den Kristallen ist Bluffen unmöglich. Mit denen wird sie nicht durchkommen. Die Leute hören in aller Unschuld Radio, aber kein Mensch funkt in aller Unschuld.
Fürs Erste lässt sie die Kristalle auf der Kommode liegen und folgt Gabrielle nach unten in die Küche. Sie essen zusammen zu Abend, sitzen einander am Tisch gegenüber, mit Gabrielles Mutter am Kopfende. Die Kiefer der alten Frau mahlen methodisch, obwohl sie kaum etwas isst. Es sieht aus, als würde sie die Vergangenheit durchkauen. »Und, wie geht es dir, Mathilde?«, fragt sie Alice.
»Sei nicht albern, Maman . Das ist Anne-Marie. Du weißt doch, dass das Anne-Marie ist.« Gabrielle hat es bereits erklärt: Mathilde war die kleine Schwester ihrer Mutter. Sie starb während des großen Krieges an Tb.
Die alte Frau blickt verärgert. »Natürlich weiß ich, dass das Anne-Marie ist. Aber sie kommt mir vor wie Mathilde.«
Sie gehen alle zeitig ins Bett. »Anne-Marie muss morgen früh aufstehen«, erklärt Gabrielle. »Sie muss in Toulouse den Zug erwischen.«
Die alte Frau lacht. »Toulouse!«, sagt sie, doch was sie daran so belustigt, bleibt ein Rätsel.
IV
Alice schläft unruhig, liegt zwischendurch wach, von Ängsten heimgesucht, und wenn der Schlaf sie wieder übermannt, träumt sie wild. In ihren Träumen ist sie in Paris, mit Ned, mit Yvette, mit Madeleine und Clément. Clément lächelt sie an und streckt die Hand aus, um sie zu berühren. Manchmal ist Paris London. Einmal ist Benoît da, und sie sind zusammen im Bett, aber es ist irgendwie öffentlich, denn Clément und ihre Mutter schauen zu; und dann wird aus Benoît Ned und dann Clément, mit der sonderbaren Fähigkeit von Traumgestalten, verschiedene Personen gleichzeitig zu sein. Und als sie wach wird, beladen mit Schuldgefühlen, stehen die Leuchtzeiger der Uhr neben dem Bett auf halb sechs.
Sie schleicht nach unten und macht Wasser heiß. Dann geht sie ins Bad, nimmt das härteste, unnachgiebigste Stück Seife, das sie finden kann, und rasiert sich die Beine. Zum ersten Mal seit Monaten schminkt sie sich – eine zarte, helle Grundierung, auffällig rote Lippen, Lidschatten und Wimperntusche –, und dann nimmt sie sich das Haar vor, kämmt es aus und bindet es zu einem Nackenknoten. Schließlich feilt sie sich die Nägel schön gleichmäßig und lackiert sie blutrot. Das Mädchen vom Lande verwandelt sich in eine Städterin: adrett, raffinée und älter.
Eingewickelt in ein Badetuch, das sie mit den Ellbogen an sich drückt, damit sie die Finger ausstrecken kann, um den Nagellack trocknen zu lassen, geht sie auf Zehenspitzen zurück in ihr Zimmer, wo sie einen Moment lang zögert und die Kristalldetektoren betrachtet, die seit dem Vorabend wie eine unausgesprochene Drohung auf der Kommode liegen.
Wie lauteten noch gleich die Worte von Marguerite, der Frau, die in Beaulieu mit ihr zusammen ausgebildet wurde? »Wir Mädels haben einen Vorteil gegenüber den Männern.« Das gezierte kleine Lächeln. »Wir können jederzeit Sachen – Nachrichten und dergleichen – an einer Stelle mit uns herumtragen, wo kein Gentleman sie jemals sehen wird. Das ist sozusagen Insider wissen.«
Alice pustet auf ihre Fingernägel, um das Trocknen zu beschleunigen, nimmt dann vorsichtig die Kristalle, legt sie nebeneinander und wickelt sie fest
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