Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Deckname ist offenbar Marcelle. Es gibt eine Adresse, wo sie unterkriechen sollte, aber sonst nichts. Sie sollen versuchen, Kontakt zu ihr aufzunehmen, und ihr die Ersatzteile bringen. Darum geht’s. Die waren in einem der Behälter vom letzten Abwurf.« Er nimmt noch einen Zug von seiner Zigarette und drückt sie aus, dann holt er ein in Wachspapier geschlagenes Päckchen aus seiner Tasche und reicht es ihr. »Natürlich können Sie den Inhalt auch getrennt verstecken. Zwei Röhren und zwei Kristalle. Gefährlich sind die Kristalle. Mit den Röhren kommen Sie bei einer Kontrolle vielleicht durch, aber die Kristalle würden Sie verraten. Sie müssen also verdammt vorsichtig sein.«
Sie öffnet das Päckchen, und da sind sie, die Bestandteile der mysteriösen Elektronik: zwei Radioröhren wie kleine Glühbirnen und zwei Kristalldetektoren, Bakelitquadrate so groß wie Briefmarken mit zwei Metallkontakten, die an einem Ende herausragen. Sie hat nie so richtig verstanden, wozu die Dinger eigentlich gut sind. Ned würde das natürlich verstehen, aber sie kann sich bloß noch an einen Vortrag in Beaulieu erinnern, wo von Dioden und Trioden die Rede war, von Kristallen und Megahertz und Raumwellen. Auch mit diesen Begriffen könnte Ned sicher was anfangen. Sie nimmt einen der Kristalldetektoren in die Hand und sieht ihn sich genauer an.
»Ziemlich leicht zu verbergen bei einer Routinekontrolle, schätz ich.« Der Patron lacht. »Wenn Sie sich die Dinger vorn in die Unterhose stecken oder so. Aber bei einer richtigen Leibesvisitation sind Sie geliefert.« Er reicht ihr einen Zettel aus Reispapier, das sich im Nu herunterschlucken lässt. »Das ist eine Adresse, wo Sie unterschlüpfen können. Eine Stationsschwester in der Salpêtrière. Sie heißt Béatrice. Sagen Sie ihr, Ricard schickt Sie. Dann weiß sie Bescheid. Und nicht vergessen, Paris ist nicht wie hier. Hier ist man einigermaßen sicher, wenn man keine Dummheiten macht. Aber in Paris …« Er zuckt die Achseln und betrachtet sie mit einem Blick, der als sorgenvoll durchgehen könnte, während er sich wieder eine Zigarette anzündet. »Da ist es beschissen wie immer, fürchte ich.«
III
Nachdem der Patron gegangen ist, tritt sie ans Fenster, schaut in den kleinen Garten und denkt an Clément. Und an den aalglatten Mann im Nadelstreifenanzug namens Fawley. Aufregung kommt Furcht sehr nahe: das gleiche Herzrasen, der gleiche trockene Mund, der gleiche Schweißfilm unter den Armen. Also, was von beidem empfindet sie, jetzt, wo sie weiß, dass sie nach Paris muss? Aufregung oder Furcht? Oder beides?
Und dann denkt sie an Yvette, dieses Kind im Körper einer Frau, das kleine Mädchen, dem Witwenschaft und Mutterschaft und Kriegschaos über den Kopf gewachsen waren, das an ihrer Wange geweint und geflüstert hatte, dass sie nicht gut genug ist, dass sie nie nach Frankreich geschickt werden würde. Was, so fragt sie sich, spielt Yvette für eine Rolle in diesem ganzen Theater?
Sie radelt nach Plasonne, wo sie ihre Sachen packt und Sophie Bescheid sagt, dass sie für ein paar Tage verreist. Nach Paris, fügt sie hinzu und bereut es sogleich, als sie Sophies angstvolle Miene sieht. »Keine Sorge. In ein paar Tagen bin ich zurück. Ich will bloß eine Freundin besuchen.«
Wieder zurück in Lussac, reagiert Gabrielle Mercey ganz anders. »Du fährst nach Paris!«, ruft sie und klatscht begeistert in die Hände. »Lass mich doch mitkommen!« Und dann, als geklärt ist, dass sie nicht zusammen fahren können, sagt sie: »Warte mal kurz«, und verschwindet, um gleich darauf mit einem Zettel zurückzukommen, auf dem eine Adresse notiert ist. »Das hier sind Freunde von mir. Wenn du Hilfe brauchst, kannst du jederzeit zu ihnen gehen. Ich bin sicher, die geben dir Unterkunft, falls nötig …«
Alice packt einen Koffer. Sie wird das Kostüm tragen können, in dem sie angekommen ist und das sie seitdem nicht mehr angehabt hat, weil es zu parisienne ist, genau wie die Schuhe, die in einem kleinen Laden auf einer Seitenstraße von der Rue du Faubourg Saint-Honoré gekauft wurden, kurz bevor sie aus Paris nach London abreisten, Maman und Papa und sie, im Frühjahr 1940. Gabrielle schaut ihr hingebungsvoll beim Ankleiden zu, eine Ministrantin am Altar. Sie hilft immer, wo sie kann – näht Knöpfe an, stopft Strümpfe, wendet die Kragen von Alice’ Blusen –, solche Dinge. Im Hinterzimmer des kleinen Hauses surrt unablässig ihre Tretnähmaschine, flickt und bessert aus in
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