Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
»Ich habe gehört, Sie kannten Julie.«
Meine Anfrage schien für sie als wunderbare Überraschung zu kommen, und sie antworteten abwechselnd. Es war fast wie Kabarett, sie tauschten ständig die Rollen, die eine aß, während die andere redete. Das Betupfen der Lippen mit der Serviette nach jedem Bissen war das Signal für die andere, dass jetzt sie an der Reihe war. Die Frisuren sorgfältig gepflegt und gekleidet in dunklen Kostümen mit Rüschenblusen, zeigten sie ihr bestes Benehmen, als gälte es, ein Beispiel zu setzen. Ich stellte mir vor, dass sie immer so waren – höflich, aufmerksam, die Gesichter auf den ersten Blick unverbindlich, doch dahinter versteckte sich eine rücksichtsvolle Sorge um Anstand. Manchmal lächelten sie mich kurz an, als wüssten sie nicht genau, welchen Eindruck sie machten. Sie trugen nur wenig Lippenstift, aber ihre darauf abgestimmten leuchtend roten Fingernägel huschten in dem von Kerzen erleuchteten Raum über ihre Teller wie hektische, kleine Schmetterlinge.
Zurück in meinem Hotelzimmer, schrieb ich auf, woran ich mich aus dem Gespräch noch erinnern konnte.
»Julie war ja ein solcher Spaßvogel, nicht …?«
»So enthusiastisch! Kannst du dich noch an den Tag erinnern, als sie in der Straßenbahn anfing, Roll Out The Barrell zu singen?«
»Und so englisch … Ihr war es egal … Ich meine, gewisse Leute.«
»Ein bisschen viel konnte es manchmal schon sein. Sie fing an zu kichern und sagte den Kunden, das sei vielleicht gar nicht das, was sie wollten.«
»War sie denn nicht auch mal in der Wäscheabteilung?«
»Ach du meine Güte, ja: Sind Sie sich sicher wegen der Größe, Darling?«
»Das ist London, nicht? Ich habe meine Tochter gewarnt. Darling hier und Herzchen dort.«
»Als sie bei uns anfing, kam sie zu den Gartengeräten. Eigentlich hatte sie überhaupt keine Ahnung davon. Die Leute fragten sie um Rat wegen Dünger oder Saatgut, was die beste Harke oder der beste Gartenschlauch ist. Sie meinte, Garten sei für sie in erster Linie der Covent Garden, das Opernhaus. Sie könne sich nicht vorstellen, dass Leute in so was wirklich den Rasen mähen oder Dünger ausbringen. Damit kam nicht jeder zurecht.«
»Einige Leute fanden sie nicht so lustig, oder? Mit ihrer affektierten Stimme.«
»Sie hat ein bisschen stark aufgetragen, ja. Aber um sich selber auf die Schippe zu nehmen.«
»Sie versuchte auch gar nicht, ihren Akzent zu verstecken, wie einige Briten es tun, wollte den Leuten nicht blöd kommen und so.«
»Und dann in der Küchenabteilung, da musste sie diesen Mixer vorführen. Es war Ananassaft, nicht? Spritzte der armen Frau die ganze Ladung übers Kleid …«
»Es war eine Überraschung, dass sie sie behielten, aber man konnte ihr eigentlich nicht böse sein, immer diese gute Laune.«
»Ein bisschen überdreht, das schon. Ein paar der Mädchen mochten sie nicht übermäßig. Hielten sie für eingebildet. Es gab Zeiten, als das Management … Aber sie konnte sich einfach keine Feinde machen, auch wenn sie es versuchte.«
»Ein oder zwei. Die Stimme und die Sachen …«
»Die wir angestellt haben.«
»O ja, die wir angestellt haben.«
Und so ging es immer weiter, beide wetteiferten förmlich ums Rederecht. Hin und wieder lachten sie in ihre Servietten und redeten vorwiegend untereinander, immer wieder mit einem schnellen Blick auf mich, um meine Reaktion einzuschätzen, vielleicht aus Angst, zu weit zu gehen. Sie wussten nicht, dass Julie meine Schwester war. Ich hatte ihnen nur gesagt, sie wäre eine entfernte Verwandte, die ich kaum kannte. Sie wollten, dass ich ihrer Familie nur das Beste von ihr überbrachte. Es lag Großzügigkeit in ihrer Übertreibung, aber auch echte Zuneigung: Es sei schon so lange her, sagten sie beide, aber es sei »wirklich großartig«, an Julie erinnert zu werden. Zumindest wollte ich das zu der Zeit glauben. Ich ermutigte sie sogar, indem ich mehr als einmal sagte, wie dankbar ich ihnen sei. Ihr Akzent änderte sich im Lauf des Abends, als würden sie sich einem distinguiert aussehenden, englischen Gentleman zuliebe besonders für »die alte Heimat« ins Zeug legen. Wieder war es diese natürliche Höflichkeit. Wahrscheinlich hatten sie ihren Töchtern beigebracht, wenn du nichts Nettes sagen kannst, dann sag lieber gar nichts.
Sie erzählten mir, dass Julie Fernkurse an der Ryerson Polytechnic belegt hatte und immer Bücher mit sich herumtrug. Sie wussten nicht so recht, was sie studiert hatte, aber sie schien
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