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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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von einem Kurs in den nächsten gewechselt zu haben. Es gab Bücher über Kunst und Architektur, klassische Romane, Musikgeschichte.
    Bis zum Schluss führten sie diese Art Wechselgesang auf, zunehmend ängstlicher darauf bedacht, welchen Eindruck sie machten, ob sie genug oder bereits mehr als genug gesagt hatten. Mir fielen noch weitere Gesprächsfetzen ein.
    »Einmal studierte sie Philosophie. Sie wollte uns in der Kantine davon erzählen, zeigte uns die Bücher mit diesen alten Gemälden und so.«
    »Einmal war ich in ihrem Zimmer in Rosedale. Da waren überall Bücher.«
    »Ich auch. Und eine Schreibmaschine. Hatte sie nicht auch diesen Kurs für kreatives Schreiben gemacht?«
    »Sie zeigte mir einmal was. Ein wunderbarer Text. Über einen Besuch am Meer mit ihrem Bruder und ihrer Schwester, als sie noch ein Kind war.«
    »Der Professor hätte gemeint, es sei vielversprechend, erzählte sie uns. Darauf war sie richtig stolz. Und auf ihre Eltern. Jetzt fällt es mir wieder ein, ihr Gesicht strahlte richtig dabei. Sie wollte mich wissen lassen, wie glücklich sie alle damals waren. Das Meer und der Sand und Steinewerfen und ein Picknick.«
    »Sie redete ziemlich oft über ihren Bruder und ihre Schwester.«
    Die andere Frau nickte und wandte sich mir zu. »Kannten Sie sie?« Ich schüttelte den Kopf. »Und wie stolz sie auf die beiden war! Er war ein berühmter Schriftsteller. Sie eine Expertin für Bücher oder so was. Sie meinte, sie hätte so viel, woran sie sich orientieren könne, und sie müsse lernen, nicht so dumm zu sein. Solche Sachen.«
    »Sie hatte es sehr mit den Erinnerungen, unsere Julie. Wie meine Eltern. Sie redete davon, bald wieder nach Hause zurückzukehren, als würden ihre Mutter und ihr Vater nur auf sie warten, und sie würden dann alle zusammen am Meer leben.«
    Ich musste sie unbedingt noch etwas anderes fragen. »Klingt, als hätte sie ein aktives, glückliches Leben geführt. Ich nehme an, auch mit einigen Männerfreunden.«
    »O nein. Wir hatten welche. Aber wir wollten ja auch heiraten, was? Julie nicht.«
    »Zumindest nicht, soweit wir wussten. Sie hätte natürlich welche haben können. Man hat sich schon nach ihr umgedreht, so hübsch, wie sie war.«
    Der Abend neigte sich dem Ende zu. Ich wollte noch so viel mehr von ihnen erfahren, hätte ihnen viele Abende lang zuhören können. Jetzt fällt es mir wieder ein. Als das Dessert gebracht wurde, sagte eine von ihnen: »Es war, als wäre die Welt nicht groß genug für sie.«
    »Oder zu viel, das hätte es auch sein können.«
    »Sie war nicht immer fröhlich. Das ist doch keiner die ganze Zeit, oder?«
    »Sie hatte auch düstere Tage. Doch sie rappelte sich immer wieder hoch, nicht, mit einer ihrer kleinen Partys?«
    »Wollte immer andere glücklich machen, verteilte kleine Geschenke und so.«
    Gegen Ende wurden sie zögerlicher, weniger redselig, als würde nun etwas Dunkles ihre Erinnerungen durchstoßen. Als die Rechnung gebracht wurde, musste ich sie einfach fragen: »Was ist denn aus ihr geworden?«
    Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Zum ersten Mal hatte es nun keine von beiden eilig zu antworten. Sie schüttelten den Kopf, tupften sich zum letzten Mal die Lippen, als wären sie von Natur aus zimperlich.
    »Das wissen wir nicht so genau, oder?«
    Die andere Frau schüttelte den Kopf, aber sie schien nicht einverstanden zu sein. Irgendetwas sollte vor mir verborgen bleiben. »Sie redete viel von der Banff School of Fine Arts«, sagte sie schließlich. »Klingt wie das Paradies auf Erden, sagte sie immer.«
    »Das glaube ich nicht, meine Liebe, das glaube ich nicht. Sie hätte überall hingehen können. Sie redete von einer Arbeitserlaubnis für die Staaten. Als Kindermädchen.«
    Jetzt konnten sie beide beruhigt zu ihren Erinnerungen an Julie zurückkehren, und sie kicherten kurz. »Julie als Kindermädchen. Na, das wäre was!«
    Ich bezahlte die Rechnung, und sie standen auf. Ich dankte ihnen für ihre Zeit, und sie sagten, es sei ihnen ein Vergnügen gewesen. Und bis gegen Ende hatte das offensichtlich auch gestimmt. Das Reden über Julie hatte bei beiden die Lebensgeister wieder geweckt. Eine von ihnen hatte auch etwas dergleichen gesagt, dass allein schon ihr Anblick, der Klang ihres Lachens, ihnen den Tag verschönert hätte.
    Und doch, und doch. Je mehr mir von diesem Abend wieder einfällt, desto stärker wird der Eindruck, dass sie eine gewisse Künstlichkeit an sich hatten – etwas Gezwungenes, ein zu starkes

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