Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
Bestreben, mir zu Gefallen zu sein. Die kleinen Lachsalven waren angestrengt. Da sie gute Menschen waren, wollten sie mir unbedingt das sagen, was ich ihrer Meinung nach hören und mitnehmen wollte. Wie sehr sie sich auch bemühten, es sich nicht anmerken zu lassen, sie lehnten Julie ab. Nein, noch mehr als das: Sie hatten sie nicht einmal sonderlich gemocht. Ihre Begeisterung war vorwiegend eine Maske gewesen.
Während ich dies schreibe, trifft mich die bittere Wahrheit, dass Julie das alles wusste und sich noch mehr Mühe gab, nicht nur einfach gemocht zu werden, sondern verwandte Seelen zu finden, mit denen sie eine Lebensfreude teilen oder die erbärmliche Einsamkeit dieses Lebens abwehren konnte. Und das ist herzzerreißend.
Als ich sie zu ihrem Taxi brachte, drückte mir die Frau, die Banff erwähnt hatte, den Arm. Darin lag eine unerwartete Forschheit, und im Licht der Straßenlaterne legte sich eine Traurigkeit über ihr Gesicht, die sie ziemlich veränderte. Während ich ihnen nachwinkte, erschien ihr Gesicht im Fenster, ganz weiß in diesem Licht, und sie wirkte um Jahre gealtert. Bald würde sie ihre Tochter in die weite Welt verabschieden und hoffen, dass ihrer Einzigen nichts Böses geschehen möge, dass sie sich eines Tages in einer ruhigen Vorstadt Torontos niederlassen und ganz und gar nicht wie Julie werden möge. Ich sah das alles in ihrem Gesicht, das sage ich zumindest jetzt.
Es war ein kalter Abend. Das Laub fiel von den Bäumen, und in einem dünnen Schneegestöber verschwammen die Fensterscheiben der nur halb erhellten Läden und Büros. Die Leute eilten durch die Straßen, um nach Hause zu kommen, bevor der Schnee noch dichter fiel und die Bürgersteige rutschig wurden. Während ich auf mein Taxi wartete, stürzte eine Frau mit einem Schrei zu Boden, und einige Leute halfen ihr wieder auf die Beine und wollten nicht gehen, bis sie ganz sicher waren, dass sie sich nichts getan hatte. Eine Straßenbahn fuhr vorbei und hielt an, um weitere Fahrgäste aufzunehmen. Bevor ihre Tür sich wieder schloss, hörte ich einige Wortfetzen, Kommentare über den bevorstehenden Winter. Ein Mann lachte und blies sich in die Hände. Der Schnee wurde dichter und schluckte das Umgebungslicht, so dass die Welt in grenzenloser Dunkelheit versank. Später erfuhr ich, dass es in Toronto der heftigste Schneefall im Oktober seit fünfzig Jahren gewesen war.
An diesem Abend glaubte ich, dass meine Suche nun ein Ende gefunden hatte. Julie könnte irgendwo in dieser immensen Dunkelheit sein. Vielleicht hatte sie weiter versucht, Freude in das Leben von Menschen wie diesen beiden Frauen zu bringen. Vielleicht war sie wirklich irgendwo in den Staaten Kindermädchen geworden. Wie glücklich wären die Kinder in ihrer Obhut! Vielleicht hatte sie einen guten Mann gefunden und jetzt eigene Kinder. Aber das hätte sie uns mit Sicherheit gesagt. Eine als Mutter zur Ruhe gekommene Julie, was für einen Spaß hätten diese Kinder gehabt! Die gute Laune, die geherrscht hätte, und ihre Großherzigkeit! Die beiden Frauen hatten Julie in meiner Vorstellung wieder zum Leben erweckt, obwohl mir auch durchaus klar war, wie sehr sie sie in der ewigen Gleichheit ihres stillen, vorstädtischen Lebens durcheinandergebracht haben musste … Dann dachte ich an ihr eifriges Studieren. Vielleicht hatte sie einfach Freude daran, oder sie wollte ihre Unzulänglichkeiten ausmerzen, sich Hester und mir in gewisser Weise ein bisschen angleichen, uns stolz auf sie machen …
Andere Erinnerungen kamen wieder – wie oft sie mir gesagt hatte, was für ein albernes, nutzloses Ding sie doch sei, das nur ein hübsches Gesicht habe, und wie sehr ich mich für sie schämen müsse. Und ich träumte davon, wie wunderbar es gewesen wäre, dieses ganze Lernen mit ihr zu teilen, sie ein bisschen zu führen, so dass sie eines Tages vielleicht Lehrerin hätte werden können, und was für eine Lehrerin sie gewesen wäre! Ich lag im Bett und stellte mir all diese Julies vor, und darüber hinaus all die ungelebten Leben, von denen wir umgeben sind, Thomas Grays Elegie in mächtiger Schrift über die Welt gebreitet in einem Nebel aus Versagen und Enttäuschung und Ungerechtigkeit, Julie mittendrin in diesen unhimmlischen Heerscharen, bemüht, anders zu werden, als sie war, sich selbst die Freude versagend, die sie anderen so unbedingt schenken wollte.
Das waren meine Gedanken in den frühen Morgenstunden. In diesem plüschigen, wattierten, unpersönlichen Zimmer
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