Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
die Erinnerung die Luft füllen, die ich atmete. Ich hörte ihre Stimme, hörte, wie sie die Verse zu schnell sprach. Ich sah ihre Augen, die über die Bücherregale wanderten. Ich sah sie eine Schallplatte umdrehen. Aber vor allem hörte ich diese Stimme. Ich wollte den Arm um sie legen, meine liebe, kleine Schwester auf der Jagd nach einer Zivilisation, deren Niedergang ich so oft beklagte. Wie lange noch, fragte ich mich immer öfter, bis sie mir sagte, wie alles endete? Mied sie dieses Thema? Warum ließ sie mich warten?
»Ich glaube fast«, sagte ich, »dass sie ein bisschen zu schnell gelesen hat.«
Sie lachte. Das hatte sie bis jetzt noch nie getan, Freude mit mehr als nur einem dünnen Lächeln zu zeigen. Es war das kichernde, fast verlegene Gegacker, wie es ein pubertierendes Mädchen von sich geben könnte.
»Ach du meine Güte, ja. Ich musste ihr sagen, dass sie langsamer machen soll. Machte sie auch, aber dann ging es wieder mit ihr durch. Und diese kratzenden Geräusche, wenn sie Platten auflegte oder eine Passage noch einmal hören wollte. Das Largo des Bachschen Doppelkonzerts für zwei Violinen ist seitdem nicht mehr dasselbe.«
Jetzt ging es auch mit ihr durch, sie sprach zu schnell, als würden die Erinnerungen ihr davonlaufen. Jetzt hatte sie wirklich Tränen in den Augen. Sie tupfte sie mit dem Ärmel weg und schniefte dann, um sich zusammenzunehmen.
»Das geht überhaupt nicht, was? Ich schätze, ich habe sie eher wie eine meiner Schülerinnen behandelt. Sie sagte, ich solle nicht so herrisch sein, wenn ich versuchte, sie zu bremsen. Aber wissen Sie … Da ist etwas, was ich Ihnen sagen muss, wenn Sie mir ein bisschen Zeit geben. Mehr Kaffee, warum nicht? Noch ein Scheit ins Feuer.«
Als ich mich wieder aufs Sofa gesetzt hatte, drehte sie sich zu mir um, schien es sich aber dann anders zu überlegen und schaute wieder ins Feuer.
Ihre Stimme wurde ruhig und meditativ, fast unpersönlich. »Julie legte immer ein Scheit zu viel auf …«, setzte sie an. Wieder musste ich warten, jetzt aber, weil sie sich zu etwas durchringen musste. »Ich muss Ihnen sagen, wie ich es sehe, das Wenige, was ich weiß. Sie sind ihr Bruder, und Sie und Ihre Schwester haben sie sicherlich sehr geliebt. Sollen wir anfangen?«
Ich wartete und starrte ins Feuer, als sei das der Ort, wo unsere Gedanken, unsere Gefühle sich begegnen könnten. Wenn sie sich wieder umdrehte und mich anschaute, wollte ich nicht, dass unsere Blicke sich begegneten. Ich hatte Angst.
»Ich machte mir Sorgen um sie. Ich machte mir große Sorgen um sie. Die Rastlosigkeit ihres Denkens, das Lachen gleich nach den Tränen, der Überschwang und dann manchmal das Schweigen, wenn die Musik zu Ende war. In einem Augenblick erzählte sie mir alles, was ihr durch den Kopf ging. Im nächsten hatte ich absolut keine Ahnung, was sie dachte. Irgendetwas schien sie fast wie eine Wolke einzuhüllen. Eine Wolke des Nichtwissens, falls Ihnen der Begriff bekannt ist.«
Ich nickte. Ich versuchte mir die Julie wieder ins Gedächtnis zu rufen, die ich vor so vielen Jahren gekannt hatte, ihre Unbeständigkeit, ihre Impulsivität, doch jetzt wurde etwas anderes beschrieben. »Bitte reden Sie weiter«, sagte ich. »Es klaffte immer eine Lücke …«
»Wissen Sie, ich habe keine Ahnung von den Symptomen. Es gab Augenblicke, da befürchtete ich, sie würde den Verstand verlieren – eine plötzliche Abwesenheit. Eines Abends kamen meine netten Nachbarn vorbei, nachdem sie ihnen etwas gebracht hatte, ich glaube, eine Schachtel Pralinen war es, und sie sagten etwas wie: ›Die lustige, alte Julie. Reizende Dame, aber manchmal scheint sie nicht ganz bei sich zu sein‹ oder so ähnlich. Soll ich weitermachen?«
»Aber natürlich, unbedingt«, sagte ich. »Ich sehe Julie vor mir, während Sie sprechen, eine Schwester, die plötzlich verschwand und sich seitdem nicht mehr gemeldet hat. Irgendetwas stimmte nicht.«
Ich hatte resigniert, fast enttäuscht geklungen. Aber so fühlte ich mich nicht. Ich wollte einfach, dass sie ins Zimmer kam und ich zu ihr sagen könnte: »Na komm, Julie, Liebes, reiß dich zusammen und komm nach Hause.«
Ihre Hände hatten nervös in ihrem Schoß gespielt, sich um eine Falte ihres Rocks geschlossen und wieder geöffnet. Ihre Stimme wurde noch ruhiger, noch ausdrucksloser.
»Es war ihre Familie, auf die sie sehr oft zu sprechen kam. Unvermittelt. Am Ende einer Strophe, die sie vielleicht an etwas erinnert hatte, und dann redete sie
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