Die Frau im gepunkteten Kleid
Probleme.
8
Wanakena lag schon zweihundertfünfzig Meilen hinter ihnen, und sie fuhren unter einem sich verfinsternden Himmel viel zu schnell eine gewundene Straße in der Nähe des Eriesees entlang, als Harold zum x-ten Mal sagte, er müsse pinkeln. Er griff sich ans Geschlecht und lief in ein schütteres Wäldchen. Genau genommen verwendete er das Wort »urinieren«, was Rose widerwärtig fand.
Er hatte die Tür offen gelassen; sie zündete sich eine Zigarette an und rutschte auf seinen Platz, damit er sich nicht wegen des Tabakgeruchs beklagte. Sie qualmte vor sich hin und ließ die Beine über dem Grasstreifen baumeln, als plötzlich ein Mann in einer Soutane vor ihr stand. Er schwenkte ein Gebetbuch mit einem Bildnis der Jungfrau Maria auf dem Umschlag. »Gelobt sei Jesus Christus«, keuchte er, »mein Wagen hat eine Panne«, und er wies mit spitzem Finger auf die Straße hinter sich. Bevor Rose antworten konnte, rannte er auf die andere Wagenseite, öffnete die Tür und kletterte hinein. »Fahren Sie«, befahl er. »Die Leute sind auf mich angewiesen.« In
diesem Augenblick tauchte Harold unter den Bäumen auf.
Der Mann hieß Monsignore Secker. Er war unterwegs zu einer Totenmesse für einen jungen Soldaten, dessen Leichnam von Saigon heimgeflogen und eilends beerdigt worden war. Die Mutter des Jungen hatte man Gott sei Dank davon abbringen können, in den Sarg zu schauen, es wäre kein schöner Anblick gewesen.
»Hätte man ihn nicht mit einer Flagge zudecken können«, fragte Rose, »und Blumen auf sein Gesicht legen?«
»Er hatte keins mehr«, erwiderte Monsignore Secker.
Harold murmelte: »Dieser verdammte Krieg«, und hätte noch mehr gesagt, wenn der Priester ihn nicht ständig aufgefordert hätte, schneller zu fahren. Rose war zwischen den beiden eingeklemmt, ihre Zigarette brannte noch immer. Es gab keine Möglichkeit, sie auszudrücken, und sie wagte nicht, sie aus dem Fenster zu werfen, aus Angst, einen Brand zu entfachen.
Sie dachte an die Mutter des Jungen und an all das, was getan werden musste, jetzt, wo ihr Kind unter der Erde lag. Sein Foto in Uniform musste an die Wand gehängt, die Briefe und Schulzeugnisse zusammengesucht und die Kleidung im Schrank zusammengelegt werden; man würde sie nicht weggeben, noch mindestens ein Jahr nicht, bis schließlich die Motten darüber hergefallen wären. An manchen Tagen
würde die Mutter den Hund an sich ziehen und ihm ins Ohr flüstern, dass der Gefährte seiner Kindheit nie mehr zurückkäme. Die Bilder in Roses Kopf waren so klar – gespitzte, zitternde Hundeohren –, dass ihr brennende Tränen in die Augen traten.
Sie latschte den windigen Strand entlang, die sich brechenden Wellen bespritzten ihre Schuhe. Sie hatte geklagt, dass sie Vaters ständige Raserei gegen Mutter nicht mehr ertrage, seine wüsten Beschimpfungen zerrissen ihr das Herz. Dr. Wheeler meinte, ein gewisses Maß an Schmerz oder Leid sei unerlässlich. Ein Schiff ohne Ballast schwanke und sei nicht in der Lage, geradeaus zu fahren. Es gebe nichts Absurderes als den Glauben, dass das unendliche Leid auf Erden keinen Sinn habe. Wenn man nicht akzeptiere, dass der eigentliche, unmittelbare Zweck des Lebens im Leid bestehe, sei das Dasein sinnlos. Je länger man lebe, desto klarer erkenne man jedenfalls, dass das Leben ein Betrug sei, eine Enttäuschung. Trotzdem summte er nun, begleitet vom Fauchen des Meeres, jenes optimistische Lied von den Vögeln über den weißen Klippen von Dover.
Die Kirche befand sich in einem Ort namens Salamanca, abseits von Harolds Route, eine Tatsache, die er laut und deutlich erwähnte. Doch der Monsignore war viel zu sehr damit beschäftigt, Richtungsanweisungen zu schreien, um ihn zu beachten. Als sie schließlich am Rand eines wuchernden Industriegebiets anlangten, schlug er sich erleichtert auf
die Schenkel. Aus dem Zustand der eingeschossigen Holzhäuser, von denen die Farbe abblätterte, und dem vielen Müll im Rinnstein konnte Rose ablesen, dass die Stadt kein Geld hatte. Sie fuhren in eine Seitenstraße und kamen an einem beleuchteten Schaufenster mit einer Austernreklame vorbei, an einem aufgebockten Tisch mit einem Berg Kartoffeln und an einem Laden, vor dem sich Elektrogeräte stapelten. Eine angepflockte magere Ziege verpasste einem Eimer einen Kopfstoß. Der Priester erzählte, früher sei dies Irokesengebiet gewesen, jetzt wohnten hier Eisenbahner. Auch sein Vater habe als Wartungstechniker an der Strecke von Rochester nach Buffalo
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