Die Frau im Kühlschrank
breitete sich in roten Wellen aus – vom Magen in die Brust, hinunter in die Leisten.
Ich suchte die Telefonnummer von Frau Samuelsen heraus. Nachdem ich gewählt hatte, wartete ich, während es klingelte – zweimal, dreimal, viermal. Ich’ sah ihre kleine, dunkle Wohnung vor mir, das Dragfjell dahinter, sah die alternde Frau auf den gebrechlichen Beinen die Räume durchqueren. Dann wurde der Hörer abgehoben und ihre Stimme sagte: »Guten Tag, hier bei Samuelsen.«
»Guten Tag, Frau Samuelsen«, sagte ich. »Hier ist Veum. Ich rufe aus Stavanger an.«
»Ja? Haben Sie ihn gefunden? Ist er …?«
»Nein, leider. Ich kann nicht sagen – ich habe ihn nicht gefunden. Und die Polizei hat – hat den Fall übernommen.«
»Die Polizei? Aber ich …«
»Es ist etwas geschehen.«
»Oh, Gott!« Nach einer kurzen Pause der Lähmung hörte ich sie zaghaft sagen: »Ist etwas passiert mit – Arne?«
»Neinnein, neinnein, aber mit – einer Frau.«
»Einer Frau!« Das kam wie ein Ausruf.
»Und er, Ihr Sohn, ist wahrscheinlich darin verwickelt.«
»Arne – verwickelt – in was?«
»Die Polizei wird sich sicher bei Ihnen melden, Frau Samuelsen, und Arne wird wohl gesucht werden – als Zeuge.«
»Zeuge – von was?«
»Ich fand eine tote Frau in seiner Wohnung, als ich …« Ich ersparte ihr die weiteren Details. Sie würde noch früh genug davon erfahren.
»Eine t-t-tote Frau? Wen denn?«
»Sie ist noch nicht identifiziert.«
»Aber Arne, er hatte keine …«
»Wir wissen nicht mehr als das, Frau Samuelsen. Und Arne ist nicht zu finden. Ihnen fällt nicht noch etwas ein, irgend etwas, das ein Hinweis darauf sein könnte, wo Ihr Sohn sich befindet? Hatte er Verbindungen – zum Ausland? Freunde?«
»Hören Sie, Veum – seit 1972, als mein Mann und meine Tochter im Laufe eines halben Jahres starben, sind wir keine Familie mehr – in diesem Haus. Der Kontakt zwischen Arne und mir – danach – war – unbedeutend. Ich weiß nicht mehr von ihm als ich – als das wenige, das er in seinen Briefen geschrieben hat. Ich weiß gar nichts!«
»Ich verstehe. Tut mir leid. Aber so wie die Situation im Augenblick ist, kann ich nichts mehr tun. Es ist mißglückt. Sie bekommen eine vollständige Kostenaufstellung, wenn ich wiederkomme, aber ich hoffe, Sie verstehen, daß ich den Auftrag als beendet betrachte. Die Polizei läßt nicht zu, daß ich mich in ihre Untersuchungen einmische, und jetzt – jetzt gibt es in jedem Fall eine umfassende Fahndung, und dann …«
Sie klang plötzlich müde. »Ja, gut. Melden Sie sich bei mir, wenn Sie nach Bergen zurückkommen, Veum. Ich danke Ihnen – für den Versuch. Auf Wiederhören.«
»Auf Wiederhören.«
Ich stand auf und ging durch den Raum zum Fenster. Der Schneeregen war dichter, die grauen Flocken lagen länger auf den Gehsteigen. Wenn es jetzt kälter würde, würde es richtigen Schnee geben.
Ich schüttelte mich, faßte einen Entschluß und verließ das Zimmer. Unten in der dämmrigen Bar war es recht leer. Zwei Jungen waren auch heute dabei, Pfeile zu werfen, aber es waren zwei neue Gesichter. Hinter der Theke stand der Mann mit dem Wachspuppengesicht und rieb stumm an einem Glas herum. An der Theke saß ein großgewachsener Mann mit einem großzügigen Drink vor sich und las in einer zusammengefalteten Zeitung: es war Carl B. Jonsson.
Er sah von der Zeitung auf, als ich mich auf den Barhocker neben ihn setzte. »Hallo, Snoopy«, grinste er. »Wie geht’s? Hast du deinen Mann gefunden?«
Ich schüttelte stumm den Kopf und bestellte ein großes Bier.
Jonsson schlug mit seiner großen Pranke auf die Zeitung. Sie zeigte ein Bild von Präsident Carter, als er die Niederlage eingesteht. »Sieh dir diesen göttlichen Hanswurst an. Und der sollte doch tatsächlich unser Land regieren – ja, also die Staaten – noch vier Jahre, wenn ihm Ronald nicht den Weg abgeschnitten hätte. Ein dummer, naiver Erdnußbauer aus Georgia!«
»Na ja. Ich kann nicht behaupten, daß irgendeiner von ihnen zu meinen Favoriten zählt.«
Der Barkeeper kam mit meinem Glas Bier, und Jonsson sagte sarkastisch: »Nicht? Na, dann erzähl doch mal, wer dein Favorit ist, Veum. Der lonesome Cowboy?«
Ich sah in mein Bierglas und überlegte kurz. »Wenn ich einen Favoriten hätte, dann müßte es so jemand sein wie – tja – Lasse Virén.«
Er sah mich mit offenem Mund an. »Wer? Der Langstreckenläufer? Ein Typ, der nichts anderes zu tun hat, als jeden Tag vierzig, fünfzig Kilometer zu
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