Die Frau im Rueckspiegel
»Halt. Das geht doch nicht.«
Mitten hinein in diese Szene tönte von irgendwoher ein immer lauter werdendes, eindringliches Fiepen.
Christiane schreckte hoch, starrte auf den Wecker, der in schrillen, abgerissenen Tönen vor sich hin klagte, bis sie endlich den Knopf zum Abbruch des Signals fand. Erschöpft sank sie zurück ins Bett, zog das Kissen unter ihrem Kopf hervor, preßte es auf ihr Gesicht.
Sie hielt nicht viel von Traumdeutungen. Aber in diesem Fall gab es wohl kaum Zweifel an der Auslegung der Dinge.
Vielleicht beschäftigen sich meine Gedanken einfach nur deshalb so viel mit Rebecca, weil wir uns täglich sehen und sie ja quasi der Mensch ist, mit dem ich die meiste Zeit verbringe. Es ist doch ganz normal, wenn man sich Gedanken um die Dinge macht, die einen umgeben.
Es war ein Versuch der Selbsttäuschung. Christiane war sich dessen bewußt, dennoch klammerte sie sich an diese Erklärung.
Sie ging ins Bad, duschte ausführlich, putzte die Zähne, zog sich an, trank Kaffee. Um so länger sie diese alltägliche Routine verrichtete, desto mehr Selbstsicherheit gewann sie zurück.
»Alles ganz normal. Kein Grund, beunruhigt zu sein«, murmelte sie dabei in regelmäßigen Abständen vor sich hin. Auch auf der Fahrt in die Firma, beim Wechseln des Wagens sowie auf dem Weg zu Rebecca wiederholte sie diese Sätze wie ein Gebet. Selbst als sie den Wagen vor Rebeccas Haus parkte, ausstieg und die wenigen Stufen der Treppe hinaufging.
Normalerweise öffnete innerhalb einer Minute Hanna oder Rebecca die Tür, wenn Christiane klingelte. Heute blieb es erst einmal still.
Christiane klingelte erneut.
Jetzt glaubte sie, Stimmen zu vernehmen, kurz darauf diverse Geräusche, Schritte, schließlich ein Hantieren an der Tür. Rachel stand vor Christiane. Perplex schaute sie das Mädchen an.
»Guten Morgen«, grüßte Rachel.
»Guten Morgen«, grüßte Christiane automatisch zurück.
Hinter Rachel kam jetzt Rebecca die Treppe hinunter, in einen Bademantel gehüllt. »Was machen Sie denn schon hier?«
Jetzt fiel es Christiane ein. Sie sollte heute ja eine Stunde später kommen. Schöner Mist. Sie hatte die beiden in ihrer morgendlichen Zweisamkeit gestört. Wenn man mal davon absah, daß Hanna noch oben war, aber das schien ja weder Hanna noch Rebecca was auszumachen.
»Na, wenn Sie schon mal da sind, können Sie Rachel nach Hause fahren. Ich wollte gerade ein Taxi rufen.«
Christiane machte auf dem Absatz kehrt und wartete im Wagen auf ihren Fahrgast. Rachel kam fünf Minuten später.
»Rebecca sagte, du kannst mich dann gleich noch zur Uni fahren. Ich hole nur schnell meine Seminarunterlagen aus der Wohnung.«
Christiane nahm die Anweisung kommentarlos hin.
Die beiden anderen Frauen waren am nächsten Morgen nicht mehr dagewesen. Zumindest hatte Christiane sie nicht gesehen, als sie Rebecca abholte. Vielleicht schliefen sie aber auch nur länger und riefen sich später ein Taxi. Rachel dagegen schien diese Sache nur nebenbei zu machen. Finanzierte sie ihr Studium damit?
Den ganzen Tag schwirrten Christiane unnütze Gedanken durch den Kopf. Immer wieder mußte sie sich sagen, daß es sie null anging, wie Rebecca ihre Abende verbrachte. Und trotzdem konnte sie an nichts anderes denken.
»Und vergessen Sie bitte nicht, morgen früh fliege ich nach München. Sie müssen mich eine Stunde früher abholen, damit ich den Flug schaffe«, schärfte Rebecca Christiane beim Abschied ein.
Die Pizzeria war heute ungewöhnlich gut besucht. Christiane und Judith bekamen gerade noch einen freien Tisch.
Christiane studierte aufmerksam die Speisekarte, was Judith skeptisch beobachtete. »Haben sie die Karte geändert? Oder was ist da so spannend?«
»Ich dachte, ich nehme heute mal was ganz anderes.«
»Dann hätten wir aber woanders hingehen sollen. Hier wirst du nur Pizza oder Pasta bekommen.«
»Hm«, machte Christiane. Im Prinzip war ihr das Essen egal, sie brauchte nur etwas Zeit, um sich zu entscheiden, ob sie Judith von Rebeccas letzter nächtlichen Besucherin erzählen sollte. Eigentlich tendierte Christiane dazu, es zu lassen. Allein wegen der Bemerkungen, die Judith daraufhin ablassen würde. Aber dann mußte sie auch die immer stärker werdende Unruhe weiter mit sich herumtragen, ohne mal Dampf ablassen zu können. Christiane legte die Speisekarte beiseite und seufzte. »Ich komme damit nicht klar.«
Judiths Gesichtsausdruck zeigte deutliches Nichtverstehen. »Du ißt dieses Zeug doch schon ewig.
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