Die Frau im Tal
der Dunkelheit? Nein. Ich hörte nur einen Laut. Er kam aus dem Keller. Ist jemand da unten? Ich mache Licht auf der Treppe.
»Hallo?« rufe ich, und es läuft mir kalt über den Rükken.
Keine Antwort.
Trotzdem hörte ich einen Laut.
Ich öffne die Tür zum Vorratskeller. Knipse das Licht an. Betrachte die Wände.
Niemand.
Aber woher kam der Laut?
»Hallo?« rufe ich erneut.
Endlich löst sich der Knoten.
Das geschieht mit solcher Gewalt, daß ich nach Luft schnappe. Ich bin auf diese inneren Krämpfe nicht vorbereitet und renne die Treppe nach oben ins Wohnzimmer.
Dort ist auch niemand.
Ich setze mich in den Corbusier-Sessel. Der Puls ist hoch, die Schläfen hämmern. Ich muß den Raum irgendwie füllen. Rachmaninow. Der Traum, den ich hatte. Das Klavierkonzert Nr. 2. Die Oktav-Säulen am Anfang. Die f-Moll-Akkorde, drohend gegen c-Moll modulierend. Alles, was ich hätte ahnen müssen. Ein Trauergesang für Klavier und Streicher. In dem düsteren, aufgewühlten Orchesterbild verwendet der Komponist seinen breitesten Pinsel. Da kann ich vor meinem Schuldgefühl fliehen. In diesen Unterströmungen will ich sein. Ich gehe zum Plattenregal und greife zur Version von Richter. Wislocki und die Warschauer Philharmoniker. Ein Klagelied ohne Ende, das die Grenzen des Konzerts sprengt: es ist zu bekannt, die Themen sind allzu vertraut. Aber kann sich das Vertraute abnutzen? Kann das, was einmal Qualität war, von seiner eigenen Bekanntheit verschmutzt werden und seinen Wert verlieren? Ich weiß seit Jahren von dieser Musik, hatte aber nie ein Verlangen danach. In dieser Nacht brauche ich sie. Rachmaninow im Skoog-Haus. Endlich begreife ich, was ich verloren habe. Sie sind nicht mehr da, weder Anja noch Marianne. Marianne sitzt nicht mehr neben mir. Sie ist weder in der Luft noch zwischen den Bäumen.Zum erstenmal ist sie weg. Völlig weg. Anja auch. Es gibt sie nicht mehr. Zum erstenmal beginne ich zu begreifen, daß ich sie nie mehr wiedersehen werde.
Ich wende alle Energie auf, um allein zu sein. Das ist nicht so schwierig, weil alle andern eine instinktive Scheu vor jemandem haben, der trauert. Gabriel und Jeanette haben sich widerwillig für eine Weile zurückgezogen. Meine Tragödie ist so groß, daß die Leute mit einem Seufzer der Erleichterung ausweichen. Sogar W. Gude begnügt sich mit einem Telefonanruf, in dem er sagt: »Du brauchst Zeit, mein Junge, um das zu verdauen, aber im Frühherbst sollten wir uns treffen.« Selma Lynge schickt einen Brief, in dem sie schreibt, daß sie täglich an mich denkt, aber daß sie und Torfinn nach Deutschland fahren und nicht vor September zurückkehren. Gott sei Dank weiß keiner von ihnen von meinem Selbstmordversuch. In ihren Augen bin ich nach wie vor der begabte Pianist, der mehr als stark genug ist, den Erwartungsdruck zu bewältigen. Sie glauben, daß ich bald an das denken werde, was vor mir liegt. Aber ich denke nur an das, was hinter mir liegt. Als wäre der Zeiger der Uhr an dem Abend stehengeblieben, an dem ich debütierte, in der Minute, in der Marianne starb. Alles, was danach geschehen ist, hat nichts mit dem Leben zu tun.
Ich gehe den steilen Weg hinunter zum Fluß. Ich bin wieder im Erlengebüsch. Mein Versteck, später das von mir und Marianne. Mir ist, als würde ich den ganzen warmen Sommer hier verbringen. Niemand stört mich. Nur ich bin da, die Blätter und die Bäume, und all die Bilder: die Mutter in den Sekunden, bevor sie im Wasserfall ertrank, der Vater, den ich zurückhielt, als er sie retten wollte. Anja,deren Krankheit ich erst erkannte, als es zu spät war. Marianne, die mir vor der letzten Zugabe aus dem Zuschauerraum zuwinkte. Vielleicht hätte ich rechtzeitig eingreifen können, wenn ich klüger gewesen wäre. Dieses Schuldgefühl werde ich mein ganzes Leben mit mir herumtragen müssen.
Ende Juli fange ich wieder zu üben an. Ich beginne mit dem Einfachsten, und trotzdem ist es eine Kraftprobe: Bachs »Inventiones«. Dann gehe ich weiter zu Präludien und Fugen. Danach die »Goldberg-Variationen«. Ich spiele, ohne zu denken. Ohne Ausdruck. Ohne Nuancen. Ohne Gefühl.
So ist es am besten.
Mit Rebecca Frost zum Brunkollen
An einem Samstag Anfang August klingelt das Telefon. Es ist Rebeccas Stimme. Ich höre sofort, daß etwas nicht stimmt.
»Hast du Zeit, eine Wanderung mit mir zu machen? Es ist am besten, wir gehen, ansonsten landen wir ohnehin nur im Bett.«
»Du hast seltsame Vorstellungen von einem Witwer, wie ich
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