Die Frau im Tal
»Als sich Marianne das Leben nahm, schreckten die Leute vor mir zurück wie ängstliche Fliegen. Es war direkt makaber für sie. Reden wir jetzt lieber über Christian. Verläßt du ihn?«
»Nie im Leben!« Sie schaut mich erschrocken an. »Du kennst mich doch? Ich habe mich für Christian entschieden. Ich will ihn einfach!«
»Und dein Wille ist so stark, daß ihr meine Wohnung in der Sorgenfrigata ein zweites Mal gemietet habt?«
»Das ist einer der Gründe für seine plötzlichen Wutanfälle. Aber wir hatten doch diesen Wasserschaden.«
»Warum habt ihr nicht eine andere Wohnung gemietet?«
Sie drückt ihre Hüfte hart gegen meine. »Weil ich irgendwie Kontakt mit dir haben möchte, und sei es nur über das Zahlen der monatlichen Miete.«
»Und er hat dich wirklich geschlagen? Ins Gesicht?«
»Ja. Und jetzt habe ich es gesagt. Und mehr kann ich nicht sagen, denn dann würde ich ihn bloßstellen, und das wäre absurd, denn mit ihm bin ich nun mal verheiratet. Ihm habe ich Treue geschworen in guten wie in schlechten Tagen.«
Ich gehe neben ihr und höre ihr zu. Es sind noch keine zwei Jahre vergangen, seit sie in der Aula debütierte, über ihr Kleid stolperte und uns alle erschreckte, aber trotzdem nicht aufgab und Beethovens opus 109 spielte. Wie viele Medizinstudenten ihres Alters haben Beethovens op. 109 gespielt? »Sehnst du dich nicht danach?« frage ich.
»Wonach?«
»Nach der Freiheit, die du hattest?«
Sie wirft mir einen raschen Blick zu. »Sehnst du dich nach der Zeit vor Marianne? Vor Anja? Bevor die Entscheidungen gefallen waren? Sehnst du dich nach dem nicht gelebten Leben?«
Ich schüttele den Kopf.
Wir gehen schweigend weiter.
Wir haben die letzte Kehre umrundet, bevor der Anstieg hinauf zum Brunkollen beginnt. Da deutet sie plötzlich auf eine Baumspitze.
»Schau mal«, sagt sie. »Ein echter Habicht.«
Ich zucke zusammen.
»Was ist denn mit dir?« fragt sie.
»Der Habicht«, sage ich. »Letztes Mal kreiste er hoch oben am Himmel.«
»Da hielt er Ausschau nach seiner Beute«, nickt Rebecca. »Jetzt sitzt er auf dem Baum. Jetzt kehrt er zurück an den Tatort.«
»Was willst du damit sagen?«
»Daß viele mehr haben wollen. Und daß wir keine Angst zu haben brauchen. Ein Habicht, der auf einem Baum sitzt, ist nicht gefährlich. Er sitzt nur da und überblickt sein Revier, erinnert sich an seine bisherigen Eroberungen.«
»Woher weißt du das?«
»Wir hatten einmal zwei Zwergpapageien.«
»Anja und Marianne waren nie Zwergpapageien.«
»Glaub mir einfach, Dummchen.« Rebecca küßt mich rasch auf die Wange. »Es war in unserem Sommerhaus am Skagerrak. Sie hießen Grace und Ginger. Grace war groß und schön, und Ginger war klein und verängstigt. Grace riß Ginger Federn aus, und Ginger ließ es sich gefallen. Ginger war im wahrsten Sinn des Wortes ein gerupfter Vogel. Aber was blieb ihm anders übrig. Sie lebten nun mal gemeinsam in einem Käfig.«
»Wie du und Christian.«
»Ich rede nicht von mir und Christian! Außerdem geschah das lange vor Christian. Obwohl Tag für Tag auf Ginger herumgehackt wurde, sangen sie beide laut mit ihren häßlichen, schrillen Zwergpapageienstimmen, über die man sich aber trotzdem so sehr freuen kann. Und nachts schmiegten sie sich eng aneinander und schliefen Seite an Seite, als sei aller Zank des Tages vergessen. Wir hängten den Käfig tagsüber in der Regel auf den Schlafzimmerbalkon, da hatten die beiden Schatten und waren zugleich an der frischen Luft. Eines Tages sind wir nach Arendalgefahren, um einiges zu erledigen. Als wir am Spätnachmittag zurückkehrten, hatte sich eine Tragödie ereignet. Der Käfig stand offen, und überall waren Federn und Blutflekken. Grace saß allein und etwas belämmert auf einem der Stäbe. Wir dachten natürlich sofort an die Katze, aber die ließ sich nicht das Geringste anmerken. Selbstverständlich holten wir nun den Käfig ins Haus und kümmerten uns um die arme Grace, die ihren Lebensgefährten verloren hatte. Als wir eine Stunde später zu Abend aßen, hörten wir auf einmal einen dumpfen Laut auf dem Balkon. Ich lief sofort hinüber zum Schlafzimmer, überzeugt davon, daß die Katze wie gewöhnlich vom Baum auf den Balkon gesprungen war. Aber da war keine Katze. Dafür saß ein gewaltiger Habicht auf der Balkonbrüstung und starrte mich an. Mir kam es vor, als hätte er noch Papageienfedern im Schnabel. Er war zum Tatort zurückgekehrt in der Hoffnung, nun Grace zu verspeisen. Ich schaute ihm
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