Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau im Tal

Die Frau im Tal

Titel: Die Frau im Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
Vom Netzwerk:
direkt in die Augen, und diesen Blick werde ich nie vergessen. Der Blick eines Mörders. Aber er war umsonst gekommen, denn Grace, sein Opfer, war im Haus.«
    »Wir gehen hier auf dem Weg, und der Habicht verfolgt uns mit den Augen.«
    »Ja«, sagte Rebecca beruhigend. »Aber er ist nicht oben am Himmel, ist nicht in Angriffsposition.«
    »Du glaubst also, wir überleben?«
    »Natürlich überleben wir.«

    Wir gehen das letzte Stück zum Brunkollen. Es ist heiß, ich rieche den Harzgeruch der Bäume.
    »Was ist aus Grace geworden?« frage ich.
    »Sie siechte dahin und starb. Sie hatte niemanden mehr, den sie quälen konnte. Das Leben war für diesen kleinen, bösen Vogel sinnlos geworden.«
    »Hast du Angst um Christian? Was aus ihm wird, wenn du ihn verläßt?«
    »Ich habe am meisten Angst um dich«, sagt Rebecca.
    »Warum das?«
    »Ich kenne dich zu gut. Ich weiß, daß du mit dieser Familie nie fertig wirst.«

    Wir sitzen am Aussichtspunkt. Die Weinflasche ist offen. Wir trinken aus richtigen Kristallgläsern. Die lärmenden Studenten, die früher hier waren, sind nicht mehr da. Sie gehören zu einer Zeit der Unschuld, denke ich. Sie haben inzwischen einen Job gefunden, haben Frau und Kinder. Die Brunkollenhütte ist geschlossen. Auch Rebecca und ich sind dabei, erwachsen zu werden. Alles wirkt ziemlich verlassen.
    »Man nennt sie die Frau im Tal«, sagt Rebecca. »Ich habe mich bei meinen Kommilitonen aus der Finnmark erkundigt. So eine sexy Ärztin hätten sie da oben noch nie gehabt. Sie bringt die ganze Gegend um den Verstand.«
    »Wovon redest du?« sage ich.
    »Von der Distriktsärztin in Sør-Varanger, Nordnorwegen.«
    »Was ist mit ihr?«
    »Sie heißt Sigrun Liljerot. Du bist in sie verliebt, und du weißt es nicht. Die Trauer ist schuld daran. Und ich erkenne das besser als jeder andere. Ich habe dir Anja prophezeit. Ich habe dir auch Marianne prophezeit.«
    »Dann weißt du mehr über mich als ich selbst.«
    »Klar tue ich das!« Rebecca wirft mir einen entrüsteten Blick zu.
    Ich bin müde. Ich weiß nicht, was ich antworten soll.
    Rebecca küßt mich sanft auf den Mund.
    »Meide den Umgang mit ihr. Mir zuliebe.«
    Sie wirkt klein und hilflos, wie sie da neben mir sitzt und an die vielen Zukunftsmöglichkeiten denkt.
    »Die Zeit, die du mit Anja und Marianne hattest, war so kurz«, fährt sie fort. »Deshalb wird die Trauer auch kurz sein.«
    »Das Gefühl habe ich nicht.«
    »Aber es ist so. Die intensiven Erlebnisse der Jugend werden immer, ab einem gewissen Punkt, zu einem unwirklichen Schleier. In zehn Jahren wird dir das, was geschehen ist, wie ein Traum erscheinen. Da bist du noch nicht einmal dreißig Jahre alt.«
    »Woher weißt du das alles so genau?« frage ich verärgert.
    »Weil ich es eben weiß«, sagt Rebecca bestimmt.
Herbst
    Die Zeit legt sich wie ein Film über die Wunden. Sie können jederzeit wieder aufbrechen, ohne Vorwarnung. Trotzdem ist es möglich, zu spüren, daß sie sich geschlossen haben, daß die Gedanken andere Wege gehen, daß ich minutenlang nicht an Anja oder Marianne oder an beide denke, daß ich plötzlich Ende August an Anjas Flügel sitze und eine lebensbejahende Musik spiele wie die »Waldsteinsonate«, daß ich morgens erwache und denke, ich sollte auf Tournee gehen, ich sollte in den Norden reisen, denn da bin ich nie gewesen, daß ich wieder bereit bin, einen Abend im Club 7 zu verbringen. Bin ich einfach zu jung für diese Trauer? denke ich. Habe ich den Ernst nicht begriffen? Bin ich wie Marianne in ihrer letzten Phase, als sie glaubte, überleben zu können, wenn sie sich nur einen Liebhaber zulegte und so tat, als sei alles wie vorher?Während der kurzen, surrealistischen Sitzungen bei Säffle sieht es so aus, als glaubt er nicht ganz, daß ich es ernst gemeint habe mit meinem Selbstmordversuch. Er glaubt, es sei Theater. Nicht einmal an mein Schuldgefühl glaubt er. Säffle hat fast keine Sommerferien gehabt. In seinem verrauchten Büro im Krankenhaus hat er gesessen und durch das Fenster auf die großen Laubbäume gestarrt. Er ließ die Patienten kommen und gehen. Er hat sich mit mir über Schumann, Skrjabin und Rachmaninow unterhalten. Er stochert ständig in meiner Nervosität herum. Als wollte er mich noch nervöser machen.
    »Ist es Rachmaninow, den du spielen willst?« sagt er.
    »Ja, das zweite Konzert.«
    »Damit du herauskommst aus der Depression, so wie Rachmaninow die Musik schrieb, als er tief deprimiert war und aus dem Loch herauskam und

Weitere Kostenlose Bücher