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Die Frau im Tal

Die Frau im Tal

Titel: Die Frau im Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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Carla Bley kopiert, ohne es zu wissen. Die lange, horizontale Linie. Die Musik wie eine spiegelglatte Fläche, ohne Höhen und Tiefen. Es gefällt mir.

    Später kommt Jeanette von der Probe, und wir sitzen an dem großen Tisch unterhalb der Bühne zusammen, Jeanette, Gabriel und die anderen Musiker mit ihren Freundinnen, dazu Victor Alveberg, ein etwas anstrengender Fotograf, der von mir Bilder machen möchte, obwohl er eigentlich nur Augen für Jeanette hat. Ich lehne ab, bin momentan nicht in der Verfassung, mich ablichten zu lassen.
    Ich merke, daß meine Anwesenheit die Stimmung am Tisch dämpft. Ich strahle etwas Unangenehmes und Abstoßendes aus. An mir klebt Traurigkeit. Das Gespräch läuft nicht entspannt. Das wird schwierig werden, denke ich. Gabriel Holst hat mich in ein Leben gezogen, das ich nicht leben will. Ich muß von hier weg. Der Klub schließt gleich. Cathrine kommt von der Bar herüber. Ich merke, daß es eilt. Ich werde unruhig, halte Ausschau nach den Notausgängen. Da packt mich Gabriel am Nacken und flüstert mir ins Ohr:
    »Jetzt hast du sämtliche Möglichkeiten, Aksel.«
    »Welche Möglichkeiten?«
    »Dich zu befreien. Abzuspringen. Du fängst nicht wieder an mit den Toten?«
    »Den Toten?«
    »Ja, den Meistern der Vergangenheit. Das Üben des Vorhersehbaren. Was du im Takt 164 spielen kannst. Schumann diesmal. Oder Schubert?«
    »Rachmaninow.«
    »Kein Unterschied. Die, die dir weggestorben sind, glaubten daran.«
    »Marianne nicht!«
    »Nein. Sie dachte neu. Willst du nicht ihr zu Ehren auch neu denken?«
    »Und was machen wir mit der ›Matthäuspassion‹ und den ›Goldberg-Variationen?«
    »Überlasse sie den Archivaren. Davon gibt es genügend. Die Musik kommt nicht weiter, wenn sie sich nicht etwas zurückziehen. Hast du das nicht gemerkt? Die klassische Musik ist zur Beute der Snobs geworden, der Sammler und der paranoiden Schizophrenen.«
    Jeanette lehnt sich von der anderen Seite an mich. Sie will hören, was Gabriel sagt.
    »Nein, nicht den Archivaren.« Gabriel berichtigt sich selbst. »Aber den Pedanten, den Besserwissern, den Überlieferern. Denen man in der Kindheit die Wahrheit auf den Teller geklatscht hat. Und jetzt sind sie vor den Autoritäten in Ehrfurcht erstarrt. Ihr ganzes weiteres Leben benutzen sie, um diese Wahrheit weiterzugeben. Und an wen? Wie in den Schwarzweißfilmen der 50er Jahre. Hotelszene in Florida. Zwanzig verängstigte Ober servieren die Teller, wie am Fließband. Und wem? Dem dicken, häßlichen Typ mit dem Maschinengewehr unter dem Tisch. Egal, wie du Beethovens op. 110 spielst, du hast ihn überliefert bekommen. Du hast neben deinem Professor gesessen und hast genickt und gehorcht. Du hast dich entschieden, zu den Überlieferern zu gehören. Schau dir Jeanette an. Sie gehört auch zu den Überlieferern. Jeden Tag steht sie bei der Probe auf der Bühne und gehorcht den Anweisungen des Regisseurs, der ihr bis ins kleinste sagt, was sie tun soll. Welche Kunstform entgeht der Besserwisserei? Die Malerei.Da steht kein Pedant im Atelier und sagt dem Maler, wie er den Pinsel führen soll. Warum fügen sich Schriftsteller, Musiker, Schauspieler und Tänzer? Warum muß sich ein Verlagslektor in den Aufbau von Bjørneboes neuem Roman einmischen? Warum muß dir eine Musikpädagogin aus Bayern erklären, wie du im letzten Satz der Prokofjew-Sonate den Zeigefinger einzusetzen hast? All das kümmert mich nicht mehr. Ich mache es wie die Maler. Niemand weiß besser als ich, was ich ausdrücken will. Ich brauche keine Überlieferer. Ich kann mir meine Lehrmeister selbst aussuchen. Isaak Hayes und John Coltrane.«
    »Das hört sich gut an.«
    »Es ist in jedem Fall bescheiden. Die Überlieferer sind nie bescheiden, weil sie sich fast immer überschätzen. Erinnerst du dich nicht an diesen Professor, der vor den Philharmoniekonzerten über Musik doziert hat? Er war ein gefürchteter Kritiker. Ein norwegischer Adorno. Begeistert sprach er über die Meister der Musikgeschichte. Und er war geschickt. Er hatte eine pädagogische Begabung. Und je mehr Applaus er bekam, um so eingebildeter wurde er. Schließlich wollte er persönlich die Oslo-Philharmonie dirigieren. Erinnerst du dich, wie das endete?«
    »Nein.«
    »Er überstand nicht einmal die erste Probe. Er war unfähig, zu verstehen, was wir Jazzmusiker timing nennen. Er fuchtelte mit dem Taktstock herum, und die Orchestermusiker wußten nicht, wann ihr Einsatz kam oder wo der Dirigent gerade in der Partitur

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