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Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau in Rot: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot S. Baumann
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guttun. Sie beschloss, seine Autoschlüssel zu stibitzen und das Bild mit dem Fahrrad zu holen. Wenn sie sich van der Hulsts Riesenrucksack kurz ausliehe, wäre auch der Transport geregelt. Max würde Augen machen, wenn sie ihm zum Frühstück das Gemälde servieren würde. Anouk putzte sich rasch die Zähne, band ihre Haare zusammen und zog sich an.
    Als sie Max’ gebräunten Rücken zwischen den zerwühlten Laken erblickte, zögerte sie einen Moment. Jetzt noch ein bisschen zu kuscheln wäre auch nicht schlecht. Dann aber griff sie entschlossen nach den Wagenschlüsseln und drückte die Türklinke vorsichtig hinunter. Sie verzog das Gesicht und hielt den Atem an, als diese dennoch knarrte, doch Max schlief wie ein Toter. In der Küche trank sie ein Glas Milch und griff nach einem Stück Brot, das sie im Gehen aß.
    Die Luft war frisch und duftete nach nasser Erde. Um diese Zeit war kaum jemand auf den Straßen unterwegs. Der Weg hinauf zum Eichberg führte steil bergan. Nach kurzer Zeit begann Anouk zu schwitzen. Sie stieg ab und ging zu Fuß weiter. Das alte Fahrrad war massiv und schwer und ließ sie sehnsüchtig an ihr Alu-Bike denken, das in ihrem Zürcher Loft vor sich hin staubte. Die Familie Brechbühl, zu der Max gestern gerufen worden war, wohnte in der Eichbergstraße. Nachdem Max dem Familienvater eine böse Wunde verarztet hatte, die sich dieser beim Holzhacken zugezogen hatte, war sein Wagen einfach nicht mehr angesprungen. Weit vom Dorf entfernt konnte das Haus der Brechbühls nach Max’ Beschreibung jedoch nicht sein. Die schmale Straße führte durch Wiesen und Äcker stetig bergauf. Amselgesang, Bienengesumm und das Blöken einer Herde Schafe begleiteten sie auf ihrem Weg.
    Anouk blieb einen Moment stehen, um zu verschnaufen, streifte den Rucksack vom Rücken und blickte übers Seetal. Morgendunst lag über dem See, der wie ein polierter Spiegel zwischen den Hügelzügen glitzerte. Ein Heißluftballon zog über sie hinweg. Sie hörte die zischenden Flammen des Brenners und blinzelte zu dem Luftfahrzeug hoch. Die Fahrgäste winkten ihr fröhlich zu.
    Nach einer Biegung, die durch ein kleines Birkenwäldchen führte, sah sie endlich Max’ Auto. Gott sei Dank, sie musste also nicht ganz bis zum Hotel Eichberg hinauf! Anouk spähte in das Wageninnere. Wenigstens war der Herr Doktor so klug gewesen, das Bild nicht auf dem Rücksitz zu platzieren; dort lag lediglich seine Arzttasche. Anouk zog den Autoschlüssel aus ihrer Jeans und öffnete den Kofferraum. Das Gemälde war immer noch in die Decke eingehüllt. Anouk fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ihre Hand zitterte leicht, als sie das Tuch wegzog.
    Erneut spürte sie, wie sich ihr Herzschlag verdoppelte, als sie in die grünen Augen der Abgebildeten blickte. Bei Tageslicht kam die Schönheit der Porträtierten erst richtig zur Geltung. Ihr schlanker Hals, die feurigen Locken, die schmale Taille und der gewölbte Busen. Sie hatte die Männer zu ihrer Zeit vermutlich schier um den Verstand gebracht. Anouk lächelte und schnappte gleichzeitig nach Luft. Der Perlenanhänger! Sie runzelte verblüfft die Stirn und beugte sich vor. Was sie beim ersten Betrachten des Bildes zwar bemerkt, aber nicht richtig hatte zuordnen können, stach ihr nun förmlich ins Auge. Der Perlenanhänger, den die Dame in Rot auf dem Gemälde um den Hals trug, glich bis ins kleinste Detail dem Schmuckstück, das sie von ihrer Mutter zu ihrem sechzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Der Anhänger sei, so sagte ihre Mutter damals, ein Familienerbstück und schon seit Jahrhunderten im Besitz der Familie Morlot. Aimée hätte ihn ursprünglich erhalten sollen, doch ihre Schwester machte sich nichts aus Perlen, und deshalb trug Anouk das Schmuckstück nun gelegentlich. Wie konnte das sein? War das gemalte Schmuckstück tatsächlich mit ihrem Anhänger identisch? Oder sahen sich die beiden nur täuschend ähnlich?
    »Wer bist du?«, flüsterte sie.
    »Das kann ich dir sagen. Aber danach müsste ich dich töten.«
    Sie schnellte herum. Hinter ihr stand der Kurator mit verschränkten Armen und lächelte spöttisch. »Kleiner Scherz, Anouk«, fuhr er fort und trat näher. Er kniff die Augen zusammen und starrte auf das Gemälde. »Ein schönes Bild, nicht wahr? Und sicher aus dem Schloss. Du weißt aber schon, dass Diebstahl strafbar ist, oder?« Er schüttelte missbilligend den Kopf. »Da ich aber ein guter Freund deiner Tante bin, werde ich noch mal ein Auge zudrücken

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