Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
und dich nicht anzeigen. Das Bild muss ich jedoch konfiszieren. Das verstehst du sicher.«
Er griff nach dem Rahmen.
»Nein!«, schrie Anouk und stellte sich mit ausgebreiteten Armen schützend vor das Gemälde. »Es gehört mir!«
»Wohl kaum«, meinte der Kurator und schob sie einfach beiseite. Anouk kam dabei aus dem Gleichgewicht und rutschte in den Straßengraben. Mit zwei Handgriffen hatte Rufli die Decke wieder um das Bild gewickelt, hob es aus dem Kofferraum und schritt eilig auf seinen Wagen zu, den er vor dem Birkenwäldchen geparkt hatte.
Er muss mir gefolgt sein, dachte Anouk verblüfft, und ich habe nichts bemerkt. Sicher schon von Tatis Haus aus, aber das hieße ja, dass er mich überwacht hat! Aber wieso und wie lange schon? Saß er vielleicht auch in dem Wagen, den ich neulich gerade noch habe davonfahren sehen? Anouk rappelte sich auf und rannte dem Kurator hinterher.
»Geben Sie es mir zurück!«, schrie sie und wollte nach dem Bild greifen.
»Fass es nicht an!«, zischte der Kurator leise. »Ihr Morlots habt schon genug Unruhe gestiftet. Damit ist jetzt endgültig Schluss!« Er drehte sich um und setzte seinen Weg fort. Anouk sprintete ihm hinterher und hängte sich an seinen Arm.
Sie zerrte an dem Rahmen, bis Rufli ins Straucheln geriet.
»Verschwinde endlich!«, brüllte er sie an. »Sonst werde ich andere Saiten mit dir aufziehen. Und denk nicht, dass dies eine leere Drohung ist.«
Er griff nach Anouks Handgelenk und drehte ihr den Arm auf den Rücken, bis sie aufschrie und in die Knie ging. Sie keuchte. Tränen der Wut liefen über ihre Wangen. Rufli beugte sich zu ihr hinab und bleckte die Zähne. Sein Rasierwasser stieg ihr in die Nase. Azzaro. Das hatte sie noch nie gemocht.
»Finis coronat opus«, sagte er. »Ich weiß, du kannst kein Latein, aber dein Doktor wird es dir sicher gerne übersetzen. Oder warte. Ich habe heute meinen gütigen Tag, und schließlich sollst du nicht dumm sterben. Der Satz heißt übersetzt: Das Ende krönt das Werk. Merk dir das gut, meine liebe Anouk!«
Mit diesen Worten stieß er sie von sich, hastete zu seinem Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen davon.
Anouk war mit dem Arm an einen Begrenzungspfosten geprallt und rieb sich den schmerzenden Ellbogen. Fassungslos sah sie dem Auto hinterher. Vorbei. Aus. Das Bild war weg, und sie hatte es verbockt. Wie sollte sie das nur Max beibringen? Und wie sollten sie jetzt das Rätsel um die unbekannte Dame lüften? Ob Rufli die Abgebildete wirklich kannte? Und wenn ja, weshalb verschwieg er ihre Identität?
Anouk erhob sich ächzend, wischte sich den Dreck von den Jeans und hinkte zu ihrem Fahrrad. Sie sah keine Chance, das Bild wiederzubekommen. Der Kurator war zu hundert Prozent im Recht. Es gehörte dem Schloss, und er konnte als Nachlassverwalter der von Hallwyls damit tun und lassen, was er wollte. Er musste es im Grunde nicht einmal der Öffentlichkeit zugänglich machen. Verdammter Mist!
Sie hob van der Hulsts Rucksack vom Boden auf, klappte den Kofferraum zu, schloss den Wagen ab und stieg auf ihren Drahtesel. Dann musste sie eben auf einem anderen Weg herausfinden, was es mit der Frau im roten Kleid auf sich hatte. Und vor allem musste sie auf der Hut vor Rufli sein. Was er über die Morlots gesagt hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Nun war es wirklich an der Zeit, dass ihnen Großtante Valerie die Geschichte aus ihrer Vergangenheit erzählte.
Die Kirchenglocken läuteten zum Gottesdienst, und Max schreckte aus dem Schlaf hoch. In seiner Wohnung war ihr Läuten nicht zu hören, was nichts anderes bedeuten konnte, als dass er nicht bei sich zu Hause war. Er schaute verschlafen um sich und lächelte dann.
»Anouk?«, rief er leise.
Valerie Morlot musste ja nicht gleich merken, dass ihre Großnichte diese Nacht einen Untermieter beherbergt hatte. Doch er erhielt keine Antwort. Ob Anouk schon nach unten gegangen war? Max schwang die Beine aus dem Bett und stöhnte. Sein Körper fühlte sich an, als hätte er den Gebrüdern Klitschko als Boxsack gedient. Er humpelte zum Fenster, zog die Gardine zur Seite und stieß die Läden auf. Die hereinströmende Luft roch frisch und sauber. Ein blassblauer Himmel spannte sich über dem See und den beiden Hügelzügen, die das offene Tal begrenzten.
Max streckte die Arme über den Kopf, so weit es seine lädierten Muskeln zuließen. Im Fenster spiegelte sich sein Gesicht, und er gewahrte, dass er noch immer lächelte. Es war ein leicht debiles
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