Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
ihrer Brust lag ein aufgeschlagenes Buch, und sie hatte die Augen geschlossen. Von van der Hulst war weit und breit keine Spur zu sehen.
»Zu dumm«, flüsterte Anouk, »sie schläft.«
Sie machte auf dem Fuß kehrt und zog Max am Arm aus dem Zimmer.
»Nicht doch, ich döse nur ein bisschen vor mich hin«, ertönte da hinter ihnen Valeries Stimme. Anouks Großtante öffnete die Augen und drehte den Kopf. »Ich denke, ihr beiden seid mir noch eine Erklärung schuldig.« Max und Anouk blickten sich an, als hätte man sie bei einem Schulbubenstreich erwischt. »Nicht, dass ich prüde wäre«, fuhr die alte Dame fort, legte den Schmöker beiseite und setzte sich auf. »Ihr seid schließlich beide erwachsen, aber du hast doch immer beteuert, dass Doktor Sandmeier, ich meine Max, lediglich ein guter Freund sei.«
»Tja«, begann Anouk, »wir sind uns in der Zwischenzeit eben etwas nähergekommen. Ich habe ja auch nur deinen Kuppelversuchen nachgegeben, Tati.«
Valerie schmunzelte. »Nie um eine Antwort verlegen. Und jetzt?« Sie wandte sich an Max. »Meinst du es ernst mit meiner Großnichte?«
Max verschluckte sich. Anouk grinste breit und lümmelte sich auf den Sessel neben dem Fernseher.
»Ja«, sagte sie unschuldig, »sag doch mal! Würde mich auch interessieren.«
Max räusperte sich mehrmals und wurde ein bisschen rot. »Nun, ja, natürlich«, begann er, »sie ist mir sehr teuer.«
Anouk brach in schallendes Gelächter aus und erntete dafür einen vernichtenden Blick von ihm.
Der arme Max. Er tat ihr fast leid, wie er da so vor ihr und ihrer Großtante stand und ein Gesicht machte, als müsse er demnächst die Stufen zum Schafott hinaufsteigen. Sie beschloss, ihn aus seiner unangenehmen Lage zu befreien.
»Wir mögen uns, Tati.« Anouk legte Valerie eine Hand auf den Arm. »Alles Weitere wird sich finden.«
Ihre Großtante nickte und schüttelte leicht den Kopf. »Diese Jugend«, murmelte sie ergeben, »nur nicht festlegen.«
Anouk blinzelte Max zu und wies mit dem Kopf auf den Sessel ihr gegenüber.
»Sag mal, Tati, du hast mir doch gestern eine Geschichte aus deiner Jugendzeit erzählen wollen. Etwas über Professor Rufli und meine Großmutter, erinnerst du dich?«
Valerie Morlot runzelte die Stirn. »Tatsächlich?«, sagte sie gedehnt. »Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern.«
Anouk atmete tief durch. Mist! Musste ihre Großtante gerade jetzt eine Gedächtnislücke haben? Sie warf Max einen hilflosen Blick zu.
»Vielleicht kann ich deiner Erinnerung etwas nachhelfen«, übernahm dieser. »Es ging gestern darum, dass sich der Professor komisch benimmt. Unflätige Dinge von sich gibt und … na ja, sich einfach ungewöhnlich verhält. Du sagtest daraufhin zu Anouk, dass während deiner Jugendzeit schon mal etwas Seltsames passiert sei. Im Zusammenhang mit Anouks Großmutter, deiner Schwester. Auf einer Tanzveranstaltung.«
Valeries Gesicht hellte sich auf. »Ja, stimmt!«, rief sie. »Jetzt erinnere ich mich wieder.« Ihr Lächeln erstarb, und sie blickte Anouk zweifelnd an. »Es ist aber keine sehr schöne Geschichte. Und ich bin mir selbst heute noch immer nicht sicher, was seinerzeit wirklich passiert ist. Vielleicht habe ich das damalige Geschehen ja auch falsch gedeutet.«
Anouk hatte Mühe, ruhig sitzen zu bleiben. Am liebsten hätte sie ihre Großtante ein wenig geschüttelt, damit sie endlich anfing zu erzählen. Doch sie versuchte, ihre Ungeduld zu zügeln, und antwortete sanft: »Sag uns bitte einfach, was damals vorgefallen ist!«
Valerie lehnte sich zurück. Ihr Blick ging zum Fenster hinaus, dann verschränkte sie ihre Finger ineinander, als ob sie beten wollte.
»Es war Anfang der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts.« Sie lächelte. »Du meine Güte, das klingt ja, als ob ich Methusalem wäre, nicht? Wie dem auch sei. Ich war damals etwa fünfzehn Jahre alt. Meine Schwester Viola, deine Großmutter, war sechzehn. Der Krieg war seit fünf Jahren vorbei, die Menschen begannen, sich wieder zu amüsieren. Mein Vater, sonst ein sehr strenger Mann, der seine zwei Töchter stets bewachte wie ein Zerberus, war unser ewiges Gejammer wohl leid und erlaubte uns deshalb, zum Schützenfest zu gehen. Als Anstandswauwau wurde unser Cousin Peter abkommandiert.« Valerie wandte sich an Anouk. »Dein späterer Großvater. Damals war er aber noch Cousin Peter.«
Anouk nickte; sie kannte die Familiengeschichte.
»Ja, also. Der arme Peter.« Valerie lächelte vor sich hin. »Wir haben
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