Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
hast.«
Bernhardine nickte. »Vermutlich«, krächzte sie.
Ein erneuter Hustenanfall schüttelte sie, weshalb sie beinahe das Klopfen an der Tür überhörte. Das Mädchen mit den blonden Zöpfen stand davor und trat von einem Fuß auf den anderen.
»Madame«, sagte sie, »der Pfarrer ist hier. Er lässt fragen, ob die Herrin wohl in der Lage dazu ist, Besuch zu empfangen.«
Der Priester? Bernhardine schürzte die Lippen. Ob er für die neue Kirche zu betteln gedachte? Sie war ja gewillt, ihn dahin gehend zu unterstützen, hatte jetzt aber weder Zeit noch Muße für sein Ansinnen. Sie wollte dem Mädchen schon auftragen, sie zu entschuldigen, als ihr eine Idee kam.
»Führe ihn in die Ahnengalerie. Ich werde ihn empfangen.«
Die Kleine nickte und schloss die Tür.
»Aber Bernhardine«, entfuhr es Marie, »du kannst dem Pfarrer doch unmöglich in einem feuerroten Kleid gegenübertreten. Du bist schließlich in Trauer.«
»Er wird diesen Fauxpas meinem kapriziösen Wesen zuschreiben … wie es auch alle anderen tun.« Und als sie Maries betretene Miene sah, fügte sie hinzu: »Glaub nicht, dass ich nicht wüsste, wie die Leute über mich denken. Außerdem hoffe ich sowieso nicht mehr darauf, dass ich hier«, sie machte eine ausladende Armbewegung, »als Herrin akzeptiert werde – auch wenn mich alle so nennen. Nichtsdestotrotz soll man mir Respekt entgegenbringen. Wenn schon nicht als Gräfin von Hallwyl, dann wenigstens als Mutter von deren Erben.«
Der Geistliche stand vor Viktorias Bild, als Bernhardine eine halbe Stunde später die Ahnengalerie betrat.
»Madame«, sagte er ehrerbietig und versuchte, sein Erstaunen über das rote Kleid mit einem Räuspern zu überspielen, »es ist außerordentlich gütig von Ihnen, mich unangemeldet zu empfangen.«
Bernhardine neigte wohlwollend den Kopf und gebot ihm, sich zu setzen. Sie selbst raffte ihr Kleid und ließ sich vorsichtig auf der Kante eines Louis-quinze-Sessels nieder.
»Ich bitte Sie, Hochwürden, der Dank gebührt Ihnen, mich in diesen schweren Stunden mit geistlichem Beistand zu erquicken.«
Der Pfarrer runzelte verdutzt die Stirn, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und kratzte sich am Kinn.
Bernhardine beschloss, gleich zur Sache zu kommen, bevor der Geistliche sein eigenes Anliegen vorbringen konnte.
»Hochwürden«, hob sie an und tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Sie sind ein Mann Gottes und als solcher sicher mit dem Markus-Evangelium vertraut. Ich spreche von Kapitel 4, Vers 15.«
Die dicken Augenbrauen des Pfarrers schossen in die Höhe wie zwei Hummeln. Er nickte langsam, beugte sich vor, als würde er schlecht hören, und befingerte das Holzkreuz, das an einer Kette um seinen Hals hing.
»Wo das Wort gesät wird und sie es gehört haben, so kommt alsbald der Satan und nimmt weg das Wort, das in ihr Herz gesät war«, flüsterte er heiser.
Bernhardine nickte. Sie warf einen kurzen Blick zur Tür und beugte sich ebenfalls vor.
»Ich habe Grund zur Annahme …«, sie senkte die Stimme, »dass ein naher Bekannter dem Irrglauben anheimgefallen ist. Ich sah ihn gewisse Dinge tun, die …« Sie brach ab, legte sich theatralisch eine Hand aufs Herz und fuhr zögerlich fort. »Ich muss sogar leider so weit gehen, ihn der Anbetung des – ich wage es kaum auszusprechen – Teufels zu bezichtigen.« Der Priester wollte etwas sagen, doch sie hob die Hand. »Ich weiß, das sind schwerwiegende Anschuldigungen. Und es liegt mir fern, zu einer Hexenjagd aufzurufen. Schließlich sind wir zivilisierte Leute, aber als wahre Christin darf ich meine Augen vor diesem Frevel an Gott, Jesus Christus und der heiligen Kirche nicht länger verschließen.«
Der Priester lehnte sich zurück und zog geräuschvoll die Luft ein, dann schluckte er mehrmals. Sie sah, wie sein Adamsapfel dabei auf- und abhüpfte. Fast tat er ihr leid, doch sie bemerkte auch ein gewisses Glitzern in seinen blassen Schweinsäuglein. Der Samen war gepflanzt.
»Verehrte Gräfin, ich bin zutiefst entsetzt. Wenn Ihre Beobachtungen den Tatsachen entsprechen, und ich sage nicht, dass dem nicht so ist, auch wenn man sich davor hüten muss, voreilige Schlüsse zu ziehen, dann müssen wir … muss ich, als Hirte unserer Gemeinde, natürlich diesen Anschuldigungen nachgehen.« Er zog ein Schnupftuch aus einer Tasche seines Talars und wischte sich damit die Mundwinkel ab. »Dürfte ich in Erfahrung bringen, um wen es sich bei dem fehlgeleiteten Schaf aus
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