Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
während Marie Kaspar aus dem Bettchen hob. Der Bub glühte. Sie konnte das Fieber durch die Kleider hindurch fühlen. Sein Kopf baumelte hin und her, die Augen waren verdreht. Lediglich das Weiße war noch zu sehen. Marie schluckte. Die zwei waren ernsthaft erkrankt. Der Raum hatte sich blitzartig abgekühlt, daher schlang sie eine Decke um den Knaben. Sie trat zum Fenster, legte sich den halb bewusstlosen Kaspar an die Schulter und stieß den Fensterflügel mit dem Ellbogen zu. Sie drehte den Buben ins Licht, und da sah sie es. Eine eiserne Faust umklammerte ihr Herz und ließ sie in stummem Entsetzen die Hand vor den Mund schlagen.
18
Seengen, 2010
A nouk lehnte mit verschränkten Armen an Max’ Auto und sah übers Seetal. Es war kurz nach Mittag. Auf dem See kreuzten Segelboote, die von ihrem Standort, oben auf dem Berg, wie Spielzeuge aussahen, denen ein Riese einen Schubs gegeben hatte. Anouk schwitzte und beneidete all jene, die sich zurzeit in den Strandbädern tummelten.
Max hatte sich in den Kopf gesetzt, seinen liegen gebliebenen Wagen selbst zu reparieren, deshalb waren sie nach dem Mittagessen mit Tatis Auto den Eichberg hinaufgefahren. Seit einer Dreiviertelstunde beugte sich Max nun schon über den Motor, hatte aber, außer sich schwarze Finger zu holen, noch nichts zustande gebracht.
»So eine Mistkarre!«, tönte es unter der Kühlerhaube hervor. Anouk lachte.
»Wie wär’s mit dem Pannendienst? Oder ist der Herr vielleicht zu stolz, um Hilfe anzufordern?«
Max knurrte etwas Unverständliches, richtete sich auf und putzte seine verschmierten Hände an einem Lappen ab.
»Meinst du, er hat seinen Bruder umgebracht?«, fragte Anouk unvermittelt und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Das traue ich dem Kurator durchaus zu«, erwiderte Max. »Walter wollte Viola heiraten, das passte Herbert nicht in den Kram, und schwups, hat der Bruder wenig später einen Badeunfall. Ganz schön praktisch, nicht?«
Anouk nickte und verscheuchte eine lästige Fliege.
»Aber was hat er bloß gegen meine Familie?« Sie öffnete den Kofferraum von Valeries BMW, holte eine karierte Decke heraus und breitete sie im Schatten des Wagens aus. Dann ließ sie sich auf ihr nieder und klopfte auffordernd mit der Hand neben sich. »Selbst Tati kannte nicht den Grund dafür. Vielleicht hätte uns ja meine Großmutter mehr darüber erzählen können.«
Max setzte sich ächzend auf die Decke und wischte sich mit dem schmutzigen Lappen den Schweiß von der Stirn. Dabei blieb ein Streifen Motoröl zurück. Anouk grinste.
»Ich vermute, dass irgendwann einmal etwas Schlimmes zwischen euren Familien vorgefallen ist. Das liegt doch auf der Hand. Und Rufli hat gegenüber Walter ja auch etwas Ähnliches angedeutet.«
Anouk runzelte die Stirn. »Das ist aber doch noch lange kein Grund, seinen Bruder gleich umzubringen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nun ja, fragt sich, was damals passiert ist. Eine Scheidung. Ehebruch. Betrug. Rufschändung. Früher war man in mancherlei Hinsicht noch nicht so aufgeschlossen wie heute.«
Anouk wiegte zweifelnd den Kopf hin und her. »Früher? Du meinst im achtzehnten Jahrhundert? Aber wenn das stimmt, müssten doch irgendwelche Aufzeichnungen darüber zu finden sein. Im Kirchenregister oder in einer Chronik.«
Max lehnte sich mit dem Rücken ans Auto und seufzte. »Vermutlich, aber das sind in jedem Fall vertrauliche Akten, und ich kann mir nicht vorstellen, dass wir so ohne weiteres die Erlaubnis erhalten werde, sie einzusehen oder eventuell sogar zu kopieren.«
»Stimmt, daran habe ich nicht gedacht.« Anouk legte ihren Kopf an seine Schulter. »Sollen wir also aufgeben?«
»Möchtest du das denn?«
»Im Grunde nicht, aber wenn Rufli wirklich seinen Bruder auf dem Gewissen hat, wird er auch vor einem weiteren Verbrechen nicht zurückschrecken. Für ihn steht zu viel auf dem Spiel. Ist uns die Frau in Rot dieses Risiko wert?«
Max drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel.
»Wir müssen einfach nur vorsichtig sein. Rufli ist zwar gewarnt, wir aber auch. Außerdem weiß er nichts von Valeries Beobachtungen. Ich denke, dahin gehend sind wir im Vorteil.« Anouk nickte, wischte Max den Ölstreifen von der Stirn und stand auf.
»Also los!«, sagte sie uns streckte ihm die Hand hin.
Er griff danach, und Anouk zog ihn mit einem Ruck auf die Füße.
»Was hast du vor?«
»Wir gehen beichten!«
Vom Kirchturm schlug es ein Uhr, als sie auf den Parkplatz am Friedhof einbogen. Die Luft
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