Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
über dem heißen Asphalt flirrte vor Hitze. Ein rostiges Fahrrad mit verbogenem Vorderrad lehnte an der Begrenzungsmauer, ansonsten war das Areal leer. Anouk stieg aus Tati Valeries BMW aus und wischte sich ihre schweißigen Hände an den Shorts ab. Noch immer bekam sie Panikattacken, sobald sie in einen Wagen stieg. Ob sich das binnen kurzem ändern würde? Wenn nicht, würde sie sich einer Therapie unterziehen müssen, denn es ging nicht an, dass ein Topmodel nicht mobil war. Aber war sie das denn überhaupt noch? Mit ihrer Narbe, all ihren Abschürfungen und blauen Flecken? Als Model für einen fingierten Boxkampf war sie sicherlich gut geeignet, aber Laufstege und Shootings konnte sie im Moment vergessen. Max sah nicht minder lädiert aus. Statt seiner Patienten behandelte er in letzter Zeit vorwiegend sich selbst. Es wäre im Grunde doch so einfach, das ganze Unternehmen aufzugeben und sich ein paar Tage Auszeit zu gönnen; baden zu gehen, eine Segeltour zu machen und alte Bilder, belgische Maler und rote Kleider zu vergessen. Doch dafür kannte sie sich zu gut. Sie würde nicht kapitulieren. Schon als Kind hatte sie verbissen auf das hingearbeitet, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte, weshalb ihr Vater sie auch liebevoll »mein kleiner Terrier« genannt hatte. Und meist hatte sie das Gewünschte auch erreicht. Doch sie wusste, dass es im Leben Dinge gab, die man weder durch Hartnäckigkeit noch durch kontinuierliche Arbeit bekommen konnte: Loyalität, Vertrauen, Liebe oder eine beste Freundin. Das alles waren Dinge, die einem oft nur durch Glück zuteilwurden und die man auch oft nur dank glücklicher Umstände behielt.
Anouk bemerkte, dass Max sie aufmerksam musterte. Ihre Gedanken standen ihr sicher ins Gesicht geschrieben, und so straffte sie die Schultern und hakte sich bei ihm unter.
»Jetzt wollen wir doch einmal sehen, ob das Theaterspielen Früchte bei mir getragen hat.«
Das Pfarrhaus befand sich hinter der Kirche in einem parkähnlichen Garten. Es war ein massiv gebautes zweistöckiges Gebäude mit wettergegerbten Sichtbalken. Eine blaue Kinderschaukel hing am Ast einer Eiche und pendelte sachte hin und her. Durch ein offenes Fenster sah man in die Küche, wo ein Mann mittleren Alters am Tisch saß und in einer Zeitung las.
»Du weißt aber schon, dass die Reformierten nicht beichten, oder?«, sagte Max, bevor er die Klingel betätigte.
»Wart’s ab«, erwiderte Anouk geheimnisvoll.
Der Pfarrer in einem kurzärmligen, karierten Hemd, Jeans und Sandalen wirkte überrascht, als er die Haustür öffnete.
»Herr Sandmeier?«, rief er und sah über seine randlose Brille hinweg zuerst Max und dann Anouk fragend an. »Gibt es einen Todesfall zu beklagen?« Max beeilte sich zu verneinen und machte ihn daraufhin mit Anouk bekannt. »Oh, die Großnichte unserer lieben Valerie. Von Ihnen hört man ja so Einiges«, stellte der Geistliche mit einem Schmunzeln fest.
Anouk seufzte ergeben. Dem Dorfklatsch war nicht beizukommen. Am besten man ignorierte ihn einfach.
»Was kann ich für Sie tun? Aber kommen Sie doch erst einmal herein. Oder nein, gehen wir besser in den Garten.« Er wandte sich um. »Schatz«, rief er ins Innere des Hauses, »wir haben Besuch! Würdest du uns bitte eine Kanne Eistee in die Laube bringen?«
Irgendwo im Haus fiel eine Tür ins Schloss, etwas krachte zu Boden, und gleichzeitig brach ein ohrenbetäubendes Kindergeheul los.
Der Pfarrer stutzte. »Ich kann den Krug aber auch gleich selbst mitnehmen. Warten Sie einen Moment!« Er drehte sich um und lief durch den Flur in die Küche, aus der er mit drei Gläsern und einer Karaffe mit bräunlichem Inhalt wieder zurückkam. »Hier entlang, bitte.«
Sie umrundeten das Pfarrhaus und traten durch einen gemauerten Torbogen an dessen Rückseite hindurch. Danach überquerten sie ein Rasenstück, bis sie zu einer weiß gestrichenen Gartenlaube gelangten, die von einer wuchernden Rosenhecke umgeben war. Dort bat sie der Pfarrer, Platz zu nehmen. Er füllte die Gläser und prostete ihnen zu. Entgegen Anouks anfänglicher Befürchtung schmeckte der Eistee hervorragend, und sie leerte ihr Glas in einem Zug.
»Also«, begann er und legte seine gepflegten Hände auf den Holztisch. »In welcher Angelegenheit kann ich Ihnen behilflich sein?«
Anouk warf Max einen schnellen Blick zu. »Wir möchten heiraten«, sagte sie.
Max verschluckte sich an seinem Getränk und begann zu husten. Er wurde puterrot im Gesicht und schnappte hilflos nach
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