Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
stand auf. Anouk und Max blickten zu ihm hoch. »Dann auf ins Reich der verstaubten Folianten!«, rief er gut gelaunt.
Das Kirchenarchiv befand sich in einem Gebäude, das ganz offensichtlich zu einer späteren Zeit ans Pfarrhaus angebaut worden sein musste. Der Geistliche zog einen Schlüsselbund hervor, den er an seinem Gürtel befestigt hatte, und öffnete die Tür. Sie traten in einen hellen Raum mit einem zerschlissenen Orientteppich am Boden. Ein Schreibtisch mit Drehstuhl, ein Computer, Regale voller Ordner und eine mickrige Topfpflanze vervollständigten die Einrichtung.
Anouk war enttäuscht. Sie hatte modrige Luft, staubige Papierstapel und eiserne Schatullen erwartet.
»Mein Büro«, erklärte der Pfarrer. Er setzte sich an den Schreibtisch, startete den Computer und gab dann über die Tastatur ein paar Befehle ein. »Ah, ja«, murmelte er. »Glück gehabt!« Er schnippte mit den Fingern.
Anouk und Max sahen ihn verständnislos an.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Anouk und äugte auf den Bildschirm.
Der Priester lehnte sich zurück. »Das Pfarrhaus ist einmal komplett abgebrannt«, erklärte er. »Dabei wurden nahezu alle in ihm aufbewahrten Dokumente zerstört. Wenn ich mich recht erinnere, muss das gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts gewesen sein.« Er schaute verblüfft hoch. »Komischer Zufall!« Anouk und Max wechselten einen bedeutungsvollen Blick. »Wie dem auch sei«, fuhr der Geistliche fort. »Ein paar Akten aus der Zeit konnten vor dem Feuer gerettet werden. Irgendwann in den letzten Jahren wurden sie dann alle elektronisch erfasst und archiviert. Ich habe den Registraturplan hier im Computer.« Er drückte auf eine Taste, worauf in der Ecke ein Drucker zu rattern begann. Der Pfarrer stand auf und griff sich den Ausdruck. »Hier entlang, meine Herrschaften.«
Er zeigte auf eine eisenbeschlagene Tür neben einem Aktenregal, die Anouk zuvor nicht bemerkt hatte. Wieder zog er seinen Schlüsselbund hervor, schloss die Tür auf und ging ihnen voran. Nur wenige Meter später führte eine enge Wendeltreppe zu ihren Füßen in die Tiefe. Der Pfarrer betätigte einen Lichtschalter, und an der Decke flammte eine nackte Glühbirne auf.
»Bitte nicht stolpern, die Treppe ist recht steil!«, warnte er und stieg bereits die ersten Stufen hinab.
Anouks Augen wurden groß, und sie drückte Max’ Hand. »Aufregend, nicht?«, flüsterte sie, worauf er nur stumm mit dem Kopf nickte.
»Kommen Sie?«, tönte es von unten aus der Tiefe zu ihnen hinauf.
Die Stimme des Pfarrers hallte unheimlich in dem engen Abgang. Anouk fröstelte. Sie atmete tief durch, dann folgte sie Max vorsichtig die Treppenstufen hinunter.
Schloss Hallwyl, 1746
Marie stand am Fenster, hatte das Gesicht in den Händen vergraben und schluchzte. Die Zwillinge hatten die Pocken! Es war zu entsetzlich, um das Wort laut auszusprechen. Wie sollte sie das dem Herrn mitteilen, wie Bernhardine? Marie hatte schon Leute gesehen, die die Blattern überlebt hatten. Das waren aber alles erwachsene, gesunde Menschen gewesen; keine zarten Frauen oder Säuglinge. Aber selbst wenn man die Krankheit überstand, blieben hässliche, entstellende Narben zurück. Die armen Teufel waren für ihr ganzes Leben gezeichnet. Bernhardine würde das nicht ertragen können!
Marie setzte sich auf ihr Bett und versuchte, sich zu beruhigen. Es brachte keinem etwas, wenn sie jetzt den Kopf verlor. Sie war vermutlich die Einzige, die in diesem verfluchten Gemäuer noch bei klarem Verstand war. Der jungen Amme hatte sie nichts von ihrem Verdacht erzählt. Warum auch? Wenn es wirklich die Pocken waren, hatte sich das Mädchen ohnehin längst angesteckt. Außerdem wäre das dumme Ding danach sicher schreiend aus dem Schloss gelaufen und hätte unnötigen Tumult unter dem Gesinde ausgelöst. Marie hatte gehört, dass man die Infizierten von ihren Mitmenschen fernhalten sollte und zusätzlich die Kleider, das Bettzeug und alles andere, was die Kranken zuvor berührt hatten, verbrennen musste.
Bei den Zwillingen war sich Marie sicher, dass sie die Blattern hatten, bei Bernhardine jedoch nicht. Vielleicht waren die Sprenkel in ihrem Rachen etwas ganz anderes. Bis jetzt hatte Dinchen nämlich weder Flecken im Gesicht noch an den Armen. Aber die können noch kommen, flüsterte eine böse Stimme in Maries Kopf, wie auch die Bläschen voller Flüssigkeit und die aufbrechenden Pusteln, die diese schrecklichen Narben zurücklassen. Dann wird dein hübsches Dinchen eine
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