Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Eigenschaft von ihm, die sie bis jetzt noch nicht kennengelernt hatte? Ging er Problemen einfach aus dem Weg, anstatt sich ihnen zu stellen? Wenn ja, war das zumindest eine Seite an ihm, die ihr nicht besonders gut gefiel.
Auf einem gelben Wegweiser las sie, dass es noch drei Kilometer bis nach Seengen waren. Und das in High Heels! Zu dumm, dass sie gerade heute Abend ihre Handtasche gewechselt und Geldbörse wie auch Handy in der anderen zurückgelassen hatte. Aber sie hatte ja nicht ahnen können, dass sie sich mit Max streiten und er sie deshalb nicht nach Hause bringen würde.
Rechter Hand erhob sich ein Findling, vor dem sich eine hölzerne Bank befand. Es war schon fast dunkel und der Weg nur noch als hellgraues Band zu erkennen. Anouk ließ sich auf die Bank fallen, öffnete ihre Handtasche und kramte ihre Zigaretten hervor. Langsam beruhigte sie sich wieder. Das leise Plätschern der ans Ufer schlagenden Wellen und das Gezirpe der Grillen wirkten einschläfernd.
Hatte sie überreagiert? Vermutlich. Wie immer, wenn ihr etwas naheging. Sie hatte Angst gehabt, Max zu verlieren, und mit ihrer übersteigerten Reaktion nun wohl genau das erreicht, was sie zu verhindern versucht hatte. Aber er war ohne sie sowieso besser dran. Keine Erscheinungen, keine Krähenattacken und keine Rätsel mehr. Er könnte sich mit der Bibliothekarin zusammentun, mit ihr Kinder großziehen und ein grundsolides Leben führen. Während sie bis ans Ende ihrer Tage allein bleiben würde – wie Tati Valerie. Eine alte Jungfer, die mit Ameisen redete und gestrandete Maler adoptierte. Es tat richtig gut, sich in selbstmitleidigen Betrachtungen zu ergehen, auch wenn ihr langsam kalt dabei wurde. Sie drückte die Zigarette aus und rieb sich die bloßen Arme. Es war an der Zeit, sich wieder auf den Weg zu machen.
Als sich Anouk von der Bank erhob, fiel ihr Blick auf den Findling, in den eine Metalltafel eingelassen war. Sie beugte sich vor und kniff die Augen zusammen, um die darin eingravierte Schrift besser lesen zu können.
ZUM GEDENKEN AN GRAF JOHANNES VON HALLWYL,
(1689 – 1746)
DER AN DIESER STELLE DEN TOD FAND.
ICH BIN BEI EUCH ALLE TAGE BIS AN DER WELT ENDE.
MATTH. 28,20
Unter der Schrift war ein Mann auf einem Pferd abgebildet. Die Gravur von Reiter und Pferd ließ, was die Proportionen der Darstellung betraf, jedoch stark zu wünschen übrig. Der Gaul war, im Gegensatz zu dem dicklichen Männchen, riesig. Und der Bibelspruch klang für sie eher wie eine Drohung. Bernhardines Mann war also hier im See ums Leben gekommen? Komisch, dachte Anouk, ich stolpere alle naselang über Personen und die Geschichte dieses Grafengeschlechts. Doch für heute war sie entschieden zu beschwipst, um sich noch eingehender mit dieser Art von Zufällen zu befassen. Die Zinnengängerin war also auch noch Witwe gewesen. Arme Frau!
»Das Leben kann manchmal ganz schön beschissen sein. Nicht wahr, Schwester?«
Sie seufzte, zog ihre Stöckelschuhe aus und machte sich auf den Heimweg.
Am Montagmorgen erwachte Anouk mit einem furchtbaren Kater. Ihre Zunge fühlte sich an, als ob eine Fußballmannschaft auf ihr trainiert hätte. Hinter ihrer Stirn hämmerte es, ihre Füße waren voller Blasen, und als sie in den Spiegel sah, blickte ihr ein Gespenst daraus entgegen. Das Abschminken hatte sie gestern komplett vergessen. Sie wusch sich das Gesicht mit viel kaltem Wasser, rubbelte sich die verschmierte Wimperntusche von der Haut und legte sich nochmals hin. Sie war schon wieder am Einschlafen, als es an der Tür klopfte und ihre Großtante den Kopf durch die Tür hereinstreckte.
»Entschuldige, Liebes, ich wollte dich nicht wecken, aber unten steht der Postbote mit einem Einschreiben.«
Valerie blickte sich suchend im Zimmer um.
»Er ist nicht hier«, murmelte Anouk, für den Fall, dass ihre Großtante nach Max Ausschau hielt, und fragte dann etwas lauter: »Kannst du nicht für mich unterschreiben?«
»Nein, Schatz, das geht nicht. So sind nun mal die Postvorschriften.«
Anouk seufzte, warf die Decke zurück und rappelte sich auf. »Kann man denn nie seine Ruhe haben?«, raunzte sie ärgerlich und schlurfte zur Tür.
Der Postbote riss die Augen auf, als er sie erblickte. »Frau Anouk Morlot?«, fragte er, und als sie nickte, zückte er einen Kugelschreiber und reichte ihr einen Vordruck auf einem Klemmbrett. Sie kritzelte ihren Namen auf die gepunktete Linie des Formulars, nahm den Brief entgegen und knallte die Haustür zu. Danach warf
Weitere Kostenlose Bücher