Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
bückte sich geschwind nach dem filigranen Gebilde. Sie hatte den Poesieband an Cornelis ausgeliehen. Die Trockenblume musste also von ihm sein.
Eine Kornblume. Die Pflanze bedeutete: Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Bernhardine errötete und atmete schneller. Sie würde ebenfalls hoffen. Auf irgendetwas. Vielleicht gab Gott ihr ein Zeichen.
Désirée quengelte seit einer halben Stunde und war nicht zu beruhigen. Bernhardine wurde langsam ärgerlich. Cornelis zeigte seinen Unmut nur durch das spöttische Heben einer Augenbraue, ansonsten versuchte er, ihre Tochter mit allerlei Späßen und lustigen Grimassen bei Laune zu halten, doch dem Trotzkopf war nicht beizukommen.
»Madame«, wandte sich der Maler zu guter Letzt an Bernhardine, »ich glaube, für heute kommen wir nicht weiter.«
Er verzog den Mund zu einem entschuldigenden Lächeln und legte Pinsel und Palette neben die Staffelei auf die Kommode, die mit einem Tuch abgedeckt war und behelfsmäßig als Tisch diente. Der Raum, der zu einem Atelier umgewandelt worden war, befand sich im Archivturm. Die vielen Kerzen hatten ihn aufgeheizt. Die Luft war geschwängert vom Geruch der Farben und von Terpentinöl.
Van Cleef zog seinen Arbeitskittel aus und strich sich mit seinem Halstuch über die glänzende Stirn. Er trug ein weißes Leinenhemd, das über seiner Brust offen stand. Die weiten Ärmel hatte er bis über die Ellbogen hochgekrempelt. Seine langen Beine steckten in engen, braunen Hosen. Bernhardine merkte, dass sie den Holländer anstarrte, und wandte hastig den Kopf. Sie griff nach der Klingel und läutete nach Marie.
»Nimm die Kleine mit!«, befahl sie, als ihre alte Amme eintrat. »Und keine Süßigkeiten! La Demoiselle war ungezogen.«
Marie hob Désirée mit einem Keuchen hoch. »Du Racker«, schimpfte sie, lächelte aber dabei, »du wirst ja immer schwerer. Nicht mehr lange, Dédée, und du musst die alte Marie tragen.«
Désirée kicherte, und Bernhardine verdrehte die Augen.
»Sprich gefälligst Französisch mit ihr!«, befahl sie. »Wie soll sie die Sprache denn sonst lernen? Ces domestiques, incroyable! « Ihre Bediensteten benahmen sich einfach unglaublich! Bernhardine erhob sich vom Diwan und schlug in gespielter Verzweiflung die Hände zusammen.
Cornelis lachte schallend. »Entschuldigt bitte meine Ungezogenheit, Madame, aber Dienstboten muss man mit harter Hand führen, sonst tanzen sie einem auf der Nase herum. Schaut mich an …!« Er machte ein paar elegante Tanzschritte, verbeugte sich formvollendet und grinste sie frech von unten herauf an. »Also straft mich, verehrte Herrin.«
Bernhardine schmunzelte und griff nach ihrem Fächer. Ihr war auf einmal heiß, und sie spürte, wie ihr Herz heftig zu schlagen begann. Das tief ausgeschnittene Kleid mit dem engen Korsett, das sie extra für das Porträt hatte anfertigen lassen, schnürte ihr die Luft ab. Schweißtröpfchen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet, die sie sich mit einem Spitzentaschentuch verstohlen abtupfte. Sie trat an das bleiverglaste Fenster und öffnete den Riegel. Kalte Winterluft strömte ins Zimmer und ließ die Kerzenflammen flackern. Die Luft roch nach Schnee. In drei Wochen war Weihnachten – das Fest der Liebe. Auf einmal schossen ihr die Tränen in die Augen. Liebe? Was für ein Wort! Sidonia hatte gewusst, wie sich Liebe anfühlte, sie hatte in ihren Gedichten darüber geschrieben. Aber was war mit ihr, Bernhardine? Würde sie je wissen, was dieses Wort, dieses Gefühl wirklich bedeutete? Oder würde sie in diesem verlotterten Schloss sterben, mit einem vertrockneten Herzen und der Erkenntnis, dass etwas Großes an ihr vorübergegangen war?
»Madame? Ist Euch nicht wohl?«
Cornelis war hinter sie getreten. Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken, spürte die Wärme seines Körpers, atmete seinen Geruch ein. Gänsehaut überzog ihre Haut, und sie schauderte. Sie drehte sich mit einem Lächeln um und wollte ihm sagen, dass nichts sei. Dass es ihr gut gehe, bloß eine leichte Unpässlichkeit, ein Frauenleiden; dass morgen schon wieder alles in Ordnung wäre. Doch sie brachte kein Wort über die Lippen. Sie sah nur Cornelis’ blaue Augen, sah seine Brust und dass er heftig atmete. Sie streckte die Hand aus.
Mit einem Krachen schlug die Flügeltür auf, und Johannes torkelte in den Raum. Sein Gesicht war gerötet, er schnaufte wie ein altes Schlachtross, hielt einen Moment inne und rülpste. Bernhardine ließ ihre ausgestreckte Hand, die nur noch einen
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