Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
praktisch gleich groß. Einen Moment standen sie einander stumm vis-à-vis. Dann berührten sich ihre Lippen. Erst zart, dann immer leidenschaftlicher, bis sie sich schließlich keuchend voneinander lösten.
Anouk war überrascht, wie heftig sie auf Max’ Kuss reagiert hatte, und froh, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Ihm schien es ähnlich zu gehen, denn er räusperte sich mehrmals, bevor er mit belegter Stimme sagte: »Wir sollten jetzt den Rechen kontrollieren.«
Im Schloss brandete Applaus auf. Das Konzert war vorbei.
Schloss Hallwyl, Dezember 1746
»Cornelis van Cleef«, murmelte Bernhardine und betonte dabei jede Silbe einzeln. Sie saß in ihrem Boudoir, nippte an einer Tasse Tee und ließ ihre Blicke durch den Raum schweifen. Dessen Wände waren mit einer französischen Seidentapete bezogen. Eine zierliche Sitzgruppe stand unterhalb des Erkerfensters. Das Spinett aus Italien mit der gepolsterten Sitzbank rundete die Einrichtung ab.
Was für ein fesches Mannsbild dieser Holländer doch war! In seinen himmelblauen Augen konnte man regelrecht versinken. Er trug seine braunen, gelockten Haare lang. Eine Perücke zu tragen, lehnte er ab. Das sei, so sein Kommentar, nicht mehr in Mode. Die ginge jetzt wieder mehr in Richtung Natürlichkeit.
Bernhardine fand diese modische Strömung zwar äußerst charmant, aber etwas exzentrisch. Ohne Perücke? Sie, mit ihren roten Locken? Niemals! Am Ende würde man noch ohne Hut und Korsett aus dem Haus gehen. Sie kicherte.
Cornelis’ perfekt gestutzter Bart und sein klassisches Profil hätten so manch griechischen Gott vor Neid erblassen lassen. Seine Umgangsformen waren tadellos, sein Französisch exquisit, und seine Bilder … Bernhardine seufzte. Der Mann war über alle Zweifel erhaben! Johannes mochte den Holländer, der ihm von einem Bekannten empfohlen worden war, zwar nicht und hatte schon einige abfällige Bemerkungen über ihn gemacht. Doch sie ließ nichts auf den Maler kommen, ein Umstand, der am gestrigen Abend zu einem fürchterlichen Streit zwischen den Eheleuten geführt hatte. Johannes hatte daraufhin das Schloss verlassen und war die ganze Nacht über fortgeblieben. Bernhardine schürzte die Lippen. Sollte der alte Mann doch fernbleiben! Am besten für immer! Sie verabscheute ihren Gatten. Sein schwammiges, überquellendes Fleisch, seinen stinkenden Atem und die knorpeligen Wucherungen an seinen Gelenken, die von der Gicht herrührten. All das verursachte ihr Brechreiz. Jedes Mal, wenn er ihr beiwohnte, musste sie sich zusammenreißen, um ihn nicht mit einem Laut des Abscheus von sich zu stoßen. Gott sei Dank kam er nur noch selten in ihr Bett. Wahrscheinlich vergnügte er sich zurzeit wieder mit irgendeiner drallen Bauerntochter, wie er es bereits während ihrer Schwangerschaften getan hatte. Umso besser! Auf diese Weise hatte sie wenigstens ihre Ruhe.
Im Gegensatz zu Johannes sah Cornelis Michelangelos David ähnlich. Wie süß müsste es sein, in seinen Armen zu liegen!
Bernhardine erschrak bei diesem Gedanken, und ihre Hand zitterte. Etwas Tee schwappte über die Porzellantasse, tropfte auf ihr Kleid und hinterließ einen bräunlichen Fleck.
»Bien fait!« Gut gemacht!
Sie setzte sich ans Spinett und ließ ihre Finger gedankenverloren über die Tasten gleiten. Es war erst drei Uhr nachmittags, aber bereits um diese Zeit zog sich das Licht, das sich den ganzen Tag über nicht richtig hervorgetraut hatte, zurück. Die grauen Wolken hockten wie eine Horde Krähen knapp über den Baumwipfeln und spotteten der frühen Stunde.
Als die Magd ins Zimmer trat, um Holz nachzulegen, befahl ihr Bernhardine daher, die Kerzen anzuzünden. Sie versuchte sich am »Wohltemperierten Klavier« von Bach, gab nach ein paar misstönenden Akkorden jedoch auf. Für wen sollte sie ihre Spielkunst auch verfeinern? Johannes machte sich nichts aus Musik, die Kinder waren noch zu klein, und die wenigen Gäste, die sie empfingen, waren mehr am Essen und Trinken interessiert als an gehobener Kammermusik.
Bernhardine holte tief Luft. Womit hatte sie ein solch tristes Leben nur verdient? Sie stand auf, trat vor das Bücherregal und griff nach Sidonia Zäunemanns Buch. Seit sechs Jahren war ihre Lieblingsdichterin nun schon tot – ertrunken in der Gera. Ob sie aus freiem Willen aus dem Leben geschieden war? Bernhardine fröstelte und setzte sich an den Kamin. Als sie den Band aufschlug, fiel eine gepresste Kornblume heraus. Sie riss verblüfft die Augen auf und
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