Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau in Rot: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot S. Baumann
Vom Netzwerk:
würde.
    »Er soll hereinkommen«, sagte Johannes zum Verwalter und erhob sich ächzend.
    Gerold war, wenn das überhaupt möglich war, noch dünner geworden. Seine dunklen Augen lagen tief in den Höhlen, sein Blick huschte unruhig hin und her. Er erinnerte Bernhardine immer mehr an eine alte, zerzauste Krähe. Seine stoppeligen Wangen waren eingefallen und zerfurcht, als wäre ein Pflug über sie hinweggefahren. Das schwarze Haar stand fettig und verfilzt vom Kopf ab. Er trug einen dicken Wollmantel. Die kniehohen Reitstiefel starrten vor Dreck. Bernhardine rümpfte die Nase. Wie immer gab Gerold nichts auf Putz, den er, wie alles, was mit dem äußeren Erscheinungsbild zu tun hatte, für Teufelswerk hielt.
    »Geliebter Bruder, welche Freude!« Johannes ging mit offenen Armen auf ihn zu.
    »Mon Frère«, erwiderte Gerold leutselig, verbeugte sich tief vor seinem Bruder und umarmte ihn anschließend. »Entschuldigt mein unangemeldetes Erscheinen. Ein böser Traum lockte mich von meiner Burg.«
    Bernhardine zog eine Augenbraue hoch. Jetzt würde er bestimmt gleich anfangen, von der Verdammnis zu sprechen, doch Gerold blieb stumm und warf ihr nur einen prüfenden Blick zu. Sie errötete heftig. Ihr Herzschlag verdoppelte sich. Er konnte unmöglich etwas wissen. Das war reiner Zufall!
    »Ah, ma Belle-Sœur. «
    Er machte einen Kratzfuß, und Bernhardine neigte den Kopf. Sie griff nach ihrem Fächer. Obwohl es im Speisesaal eher klamm war, fächelte sie sich hastig Luft zu. Keiner sollte ihr Erröten falsch deuten.
    »Gerold, welche Freude, Euch hier zu sehen«, erwiderte sie und wies mit der Hand auf einen Stuhl. »Nehmt doch Platz und leistet uns Gesellschaft! Habt Ihr schon gespeist?«
    Er schüttelte den Kopf, setzte sich an die Längsseite des Tisches und schälte sich aus seinem Mantel.
    »Zur Ehre des Herrn habe ich heute gefastet. Aber einem Glas Wein wäre ich nicht abgeneigt, da das Blut Christi den Gläubigen doch in Form der Früchte des Rebstockes dargereicht wird.«
    Bernhardine holte tief Luft und wappnete sich innerlich gegen ein langes Abendmahl. Von fern drang das Läuten der Kirchenglocken an ihr Ohr. Sie zählte leise mit. Sieben Schläge. In drei Stunden wollte sie sich mit Cornelis treffen. Hoffentlich hätte ihr Schwager bis dahin seinen Sermon beendet.

    »Dédée verlangt nach ihrer Mutter.« Marie stand im Nachtgewand, eine Kerze in der Hand, im Türrahmen und trat von einem Fuß auf den anderen. »Sie fiebert schon den ganzen Tag, und es will mir nicht gelingen, sie zu beruhigen.«
    Bernhardine warf ihre Haarbürste auf die Kommode.
    »Dann mach ihr halt einen Tee!«, gab sie ungehalten zurück und bereute ihre harschen Worte im selben Moment. Es war aber auch wirklich zum Verzweifeln! Die Tischrunde hatte sich erst vor einer knappen Viertelstunde aufgelöst, nachdem Johannes betrunken vom Stuhl gefallen war. »Marie, Kinder sind oft fiebrig … das wird sich schon wieder legen.«
    Die Pendeluhr in der Ecke schlug die zehnte Stunde. Kurz darauf begann auch das Nachtgeläut der Seenger Kirche. Bernhardine presste ärgerlich die Lippen zusammen. Sie würde zu spät kommen.
    Der Wind zerrte an ihrem Umhang und riss ihr fast die Haube vom Kopf, als sie die Pforte zum Hof aufschloss. In der Küche brannte noch Licht. Sie konnte zwei Schatten ausmachen, die sich hinter dem Fenster bewegten. Ansonsten lag der Schlosshof verlassen da. Über den Himmel jagten Wolken. Ab und zu schien der Mond zwischen ihnen hindurch und tauchte die Szenerie in bleiches Licht. Aus dem Pferdestall hörte sie Schnauben und Getrampel. In der Luft lag ein Hauch von Schnee. Der Winter würde in Kürze zurückkehren, um sein kaltes Regime wieder aufzunehmen.
    Bernhardine wagte kaum zu atmen. Ihr Mund war staubtrocken. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie hielt einen Moment inne und betrachtete die Kapelle jenseits der Steinbrücke.
    Noch konnte sie umkehren, die Stiege hinaufgehen, sich ausziehen und unter die Bettdecke schlüpfen. Cornelis würde vergebens warten, irgendwann aufgeben und in sein Quartier zurückkehren. Sicher enttäuscht und ärgerlich, vermutlich würde er sogar abreisen, bevor es wieder zu schneien anfing. Aber sie, Bernhardine von Hallwyl, hätte ihre Ehre bewahrt. Maries Worte kamen ihr wieder in den Sinn: Désirée fieberte. War es nicht ihre Mutterpflicht, bei ihrer kranken Tochter zu wachen? Ihr die heiße Stirn zu kühlen und ein Lied vorzusingen? Sie wollte keine schlechte Mutter sein, aber da

Weitere Kostenlose Bücher