Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
mitbekommen.
Max räusperte sich. »Super!«, rief er etwas zu laut und drückte sinnlos ein paar Knöpfe auf dem Schaltbrett, um seine Verlegenheit zu kaschieren. »Fein gemacht, ihr beiden. Und jetzt üben wir mal den zweiten Akt!«
Im Schatten der mannshohen Koniferen war es angenehm kühl. Die tief stehende Sonne erleuchtete den gelb-weißen Kirchturm wie eine übergroße Kerze. Anouk rieb sich den verspannten Nacken und blickte auf. Eine ältere Frau mit einer Gießkanne ging die Reihen entlang, besprengte ein Grab und nickte ihr lächelnd zu.
Die geistlichen Gedichte dieser Zäunemann waren sterbenslangweilig. Anouk unterdrückte ein Gähnen, klappte den Gedichtband zu und sah zur Sporthalle hinüber. Ob sie zurückgehen sollte? Aber der Sommerabend war einfach zu schön, um ihn in einer muffigen Halle zu verbringen. Sie stand auf und schlenderte über den Kiesweg auf die Kirche zu. Über der Eingangstür, an der weiß verputzten Wand, befand sich eine aufgemalte Sonnenuhr, über der sich ein altmodischer Schriftzug wölbte: »Meine Zeit steht in deinen Händen« und darunter prangte noch ein weiterer Spruch: »Gib Gott die Ehre«.
Anouk hatte mit Religion nichts am Hut, obwohl sie ein kleines, silbernes Kreuz um den Hals trug, das ihr Tati Valerie zur Konfirmation geschenkt hatte, doch die Stille rings um sie herum war überaus wohltuend. Wie ein warmes Bad nach einem anstrengenden Shooting. Ob sie in die Kirche hineingehen sollte, um ein Gebet zu sprechen? Doch sie wollte nicht heucheln … und überhaupt kannte sie gar kein Gebet.
Anouk schlenderte durch die Grabreihen und studierte die Namen der Verstorbenen. In einem höher gelegenen Teil des Friedhofs standen kleinere Grabsteine und schlichte Holzkreuze. Sicher der Kinderfriedhof. Anouk fröstelte. Wie tragisch, sein Kind zu verlieren! Sie dachte an Julias Mutter, die beim Begräbnis ihrer einzigen Tochter zusammengebrochen war. Und Anouk war schuld an diesem Schmerz. Sie hatte Julia auf dem Gewissen, obwohl ihr alle ständig das Gegenteil beteuerten. Wie Max gerade vorher. Sie schluckte den Kloß hinunter, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte, und ging weiter. An einer Backsteinmauer befand sich eine verwitterte Marmorplatte. Anouk trat näher und versuchte, die eingravierten Worte zu entziffern:
HIER RUHT IN GOTT:
FRAU VIKTORIA GRÄFIN VON HALLWYL, GEBORENE GRÄFIN VON STACKELBERG,
GEB. DEN 15. JANUAR 1691, GEST. DEN 4. JANUAR 1711
UND UNSER GELIEBTER SOHN
GEORG DIETRICH GRAF VON HALLWYL
4. JANUAR 1711
ICH BIN DIE AUFERSTEHUNG UND DAS LEBEN. WER AN MICH GLAUBT, DER WIRD LEBEN, OB ER GLEICH STÜRBE. UND WER DA LEBET UND GLAUBET AN MICH, DER WIRD NIMMERMEHR STERBEN.
JOH. XI.25.26
Daneben befand sich noch eine weitere Marmorplatte, auf der zwei Engel zu erkennen waren. Die Schrift war aber so verwittert, dass Anouk sie trotz allen Bemühens nicht entziffern konnte. Ein zusätzlich daneben angebrachtes Messingschild lieferte jedoch die Information, dass es sich bei den beiden Gedenkplatten um die von Viktoria von Hallwyl und die ihrer vier Kinder handelte.
Anouk erinnerte sich, auf ihrem Spaziergang zum Schloss am dortigen Friedhof vorbeigekommen zu sein. Sie hatte aber die zerfallenen Gräber und Grabsteine nicht weiter beachtet.
Die arme Frau, dachte sie. Sie hatte drei Kinder beerdigt und war anscheinend bei der Geburt des vierten gestorben. Anouk fuhr mit dem Finger über die moosbewachsene Inschrift. Ihre Fingerspitzen kribbelten, als stünde der Stein unter Strom. Ein Krächzen ließ sie zusammenzucken. Über ihr flatterte eine Krähe im blassblauen Abendhimmel. Das Tier stieß laute Schreie aus, stürzte dann auf sie herunter und schlug seine Krallen in ihr Haar. Anouk versuchte, ihr Gesicht mit den Armen zu schützen und gleichzeitig die Krähe zu vertreiben. Dabei fiel ihr der Beutel zu Boden, und sein gesamter Inhalt verstreute sich über den Kies.
»Hau bloß ab, du Mistvieh!«, schrie sie und duckte sich. Anouk stolperte auf die Kirche zu, griff nach der Klinke und schlüpfte durch die Tür hinein. Schwer atmend lehnte sie sich an das kühle Mauerwerk und schüttelte ungläubig den Kopf. Hitchcock auf dem Dorf? Und sie hatte gedacht, das Landleben sei langweilig.
Schloss Hallwyl, 1746
»Lieben und geliebet werden, war das Erste auf der Erden.«
Cornelis hatte seinen Kopf auf Bernhardines nackten Bauch gelegt. Er sprach leise, doch sie erkannte die Verse sofort. Sie stammten aus einem Liebesgedicht von Sidonia
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