Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Lächeln in ihrem Gesicht und wich dem Schock der Erkenntnis.
»Die Verse!«, keuchte sie und packte Max am Arm. »Es waren dieselben Verse!«
Er runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht.«
»Geht’s denn jetzt weiter?« Die Bibliothekarin warf Anouk einen giftigen Blick zu. »Ich habe schließlich auch noch etwas anderes zu tun.«
Zustimmendes Gemurmel erhob sich, und Max wand sich aus Anouks Griff. Sie wollte ihn zurückhalten, doch er schüttelte den Kopf.
»Fangt schon mal mit der Szene an, in der sich Nick und Peter duellieren und Anouk nicht auf der Bühne ist«, wandte er sich an die Schauspieler. »Ich bringe sie währenddessen für einen Moment hinaus an die frische Luft.«
Die Dorfbewohner nickten und stellten sich wieder in Position. Nur Frau Häusermann starrte Anouk böse an und ließ ein deutliches Schnauben vernehmen.
Anouk schürzte die Lippen. Was war denn mit der los? Als sie die Gedichtbände bei ihr bestellt hatte, war sie doch noch überfreundlich und recht sympathisch gewesen.
»Ich brauche aber später deinen Rat, Max, wegen meiner Szene«, wandte sie sich nun an den Arzt. »Ich bin mit meinem Ausdruck noch nicht ganz zufrieden.«
»Ja, klar, Brigitte. Ich komme gleich wieder.«
Er schenkte der Frau ein hinreißendes Lächeln, worauf diese beschwichtigt nickte und Anouk ein Licht aufging. Allem Anschein nach kam sie der Bibliothekarin ins Gehege.
Vor der Turnhalle hatte sich eine Schar Jugendlicher zusammengefunden. Die Teenager hörten Musik über ihre Handys, ein paar rauchten verstohlen und einer ließ diskret eine Flasche Bier verschwinden, als Max und Anouk auftauchten. Max warf ihnen einen tadelnden Blick zu, unterließ jedoch jeden Kommentar und zog Anouk mit sich über die Straße. Er öffnete ein schmiedeeisernes Tor, das auf den Friedhof führte, und drückte sie, dort angekommen, sanft auf eine Bank. In der Luft hing der Duft von geschnittener Thuja und verwelkten Blumen.
»So«, sagte er, »und jetzt rede bitte mal Klartext! Von welchen Versen hast du gesprochen? Und weshalb hast du so geschrien?«
Seine Stimme klang rauh, als hätte er Halsschmerzen. Er räusperte sich.
»Ich habe den Unfall nochmals nacherlebt«, sagte sie und schaute zum Kirchturm hoch. Eine Krähe hockte auf einem Mauervorsprung und beäugte die Eindringlinge mit ihren glänzenden Knopfaugen. Sie stieß einen krächzenden Schrei aus und flatterte mit den Flügeln.
»Das Auto ist nach dem Aufprall auf dem Dach gelandet«, wandte sich Anouk an Max. »Ich konnte den Sicherheitsgurt nicht lösen. Sie haben mich zuerst rausgeholt. Julia aber … sie … es fing an zu brennen. Ich …«
Anouk zitterte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie schluckte.
»Schon gut.« Max legte seinen Arm um ihre Schultern und hielt sie fest.
»Es war meine Schuld!«
»Das war es nicht.« Er strich ihr übers Haar. »Unfälle passieren eben. Du …«
»Was weißt du schon?«, schrie sie ihn an und riss sich von ihm los. »Ich hätte fahren sollen! Es war mein Auto! Aber ich war zu betrunken. Julia war meine beste Freundin. Sie hat mich immer auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, wenn ich abzuheben drohte. Sie war das einzige Kind ihrer Eltern. Wie soll ich ihnen je wieder in die Augen sehen können? Wie mit dieser Schuld weiterleben? Ich …« Sie schüttelte Max’ Hand ab, als er nach ihr greifen wollte, und sprang auf. »Und zu allem Übel bin ich jetzt auch noch meschugge. Vollkommen durchgeknallt wie meine verrückte Großtante! Man kann uns gleich beide in die Geschlossene einweisen.«
Der Ausbruch verebbte so schnell, wie er gekommen war. Anouk stieß die Luft aus, setzte sich wieder hin und strich sich müde die Haare aus dem Gesicht.
»Nick hat genau dieselben Zeilen aufgesagt, die gestern meine Großtante deklamiert hat«, fuhr sie fort. »Das kann doch kein Zufall sein, oder?«
Max hob die Augenbrauen. »Genau dieselben Worte?«
Anouk nickte. Sie erinnerte sich an ihr Skript und zog es aus der Hosentasche.
»Hier!«
Er las die Zeilen und schnalzte mit der Zunge. »Schon komisch, ja.« Er drehte das Heft um. »Kennt deine Großtante diesen Dichter denn?«
Anouk warf einen Blick auf den Namen des Verfassers: Huldrich Erismann.
»Keine Ahnung, ich glaube nicht.« Plötzlich riss sie die Augen auf. »Moment mal!«
Anouk stand auf und lief zur Sporthalle hinüber. Nach ein paar Minuten kam sie schwer atmend zurück, ihre Handtasche unter dem Arm.
»Ich habe da was.« Sie griff in ihren
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