Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
wollte ich nach dem Schätzchen sehen, um ihm ein Paar frische Essigsocken überzuziehen«, stammelte sie, »da gewahre ich, dass ihr Bettchen leer ist.«
»Gib mir die Decke wieder«, grummelte Bernhardine, »ich friere. Lass anfeuern!«
Sie rollte sich wie ein Embryo zusammen und legte sich einen Arm über die Augen. Sie war todmüde. Die Kleine war sicher irgendwo im Schloss. Womöglich in der Küche, um dem Koch etwas Süßes abzuschwatzen.
»Hörst du nicht? Deine Tochter ist verschwunden. Steh gefälligst auf und lass nach ihr suchen, du herzloses Ding!«
Bernhardine stand der Mund offen. Was fiel Marie ein, so mit ihr zu sprechen? Die Amme stand jetzt mit verschränkten Armen vor der Bettstatt und starrte grimmig auf ihren ehemaligen Schützling hinab. An Schlaf war nicht mehr zu denken, deshalb schwang Bernhardine seufzend die Beine aus dem Bett und hangelte nach ihren Pantoffeln.
»Ist ja gut, ich komme. Reich mir bitte den Morgenmantel!«, sagte sie, gähnte und stand auf. »Und wehe, wenn ich jetzt in Désirées Zimmer gehe und die Kleine dort mit honigverschmiertem Mündchen friedlich schlafend vorfinde. Dann …«
Sie ließ den Satz unvollendet. Marie sollte ruhig merken, dass sie mit ihrem respektlosen Gebaren zu weit gegangen war.
Vom Hof drangen die üblichen morgendlichen Geräusche herauf: Karren rumpelten über die Steinbrücke, ein Hahn krähte, die Hunde bellten sich die Seele aus dem Leib, und die Wäscherin rief den Mägden Befehle zu. Johannes und Gerold würden vermutlich noch in den Federn liegen. Der Ältere, weil er gestern sturzbetrunken gewesen war, und der Jüngere, weil er die Angewohnheit hatte, die halbe Nacht lang in der Bibel zu lesen.
Bernhardine stockte der Atem. Himmel! Sie hatte gar nicht daran gedacht, dass Gerolds Schlafzimmerfenster auf den Hof hinausging. Was, wenn er sie letzte Nacht beobachtet hatte? War ihr nächtliches Treiben der böse Traum, von dem er gesprochen hatte? Ihre Knie drohten einzuknicken. Sie musste sich an der Bettstatt festhalten, um nicht zu stürzen.
»Bernhardine?« Marie griff nach ihrem Arm. »Ist dir nicht gut?«
»Nein, es ist nichts. Nur ein leichter Schwindel«, presste sie hervor und scheuchte Marie mit einer Handbewegung beiseite. Sie versuchte, die aufkommende Angst zurückzudrängen, fühlte aber, wie sich diese durch ihre Eingeweide schlängelte. Mit einem Mal hatte sie einen bitteren Geschmack im Mund. Sie schluckte, durchquerte den Raum und öffnete die Tür zu den Kinderzimmern. Neben dem Fenster, auf einem gepolsterten Schemel, saß die junge Amme, die Marie im Dorf aufgetrieben hatte, und gab einem der Zwillinge die Brust. Bernhardines anderer Sohn lag in der Wiege und brabbelte zufrieden vor sich hin. Das Mädchen grüßte mit leiser Stimme, errötete und schlug die Augen nieder.
Bernhardine warf einen kurzen Blick auf die prallen Brüste der Kinderfrau, die wie riesige Kohlköpfe aussahen, und trat dann in Désirées Schlafgemach. Ein widerlicher Geruch von Krankheit und abgestandener Luft stieg ihr in die Nase. Das Bettchen ihrer Tochter war zerwühlt. Ihre Lieblingspuppe lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Holzboden. Man hatte den Kamin noch nicht angefeuert. Es war auch hier bitterkalt. An der Fensterscheibe wuchsen Eisblumen und tauchten das Zimmer in ein milchiges Licht.
»Hast du auf dem Abort nachgesehen?«, wandte sie sich an Marie und schlang den Morgenmantel enger um die Taille.
Die Amme nickte. »Ebenso im Spielzimmer, in der Wohnstube und in der Küche. Selbst im Stall, weil Dédée die Pferdchen doch so mag.« Marie wischte sich über die nassen Augen. »Nichts, keine Spur! Sie kann doch nirgends hin … hat ja nur ihr Nachthemdchen an und solches Fieber.«
Ihre Lippen zitterten.
»Nun beruhige dich doch«, sagte Bernhardine und versuchte, das Zähneklappern zu unterdrücken. »Vielleicht hat sie sich versteckt, sitzt irgendwo im Verborgenen und amüsiert sich köstlich darüber, dass die alte Marie so ein Gewese veranstaltet.«
Aber ihr Tonfall strafte ihre Aussage Lüge. Désirée war ein folgsames Kind und hatte noch nie etwas Ähnliches getan. »Désirée«, rief sie, »komm sofort her! Mama ist sehr ärgerlich, weil du so ungezogen bist!«
Im Nebenzimmer fingen die Zwillinge gleichzeitig an zu schreien. Der eine an der Brust der Amme, der andere in der Wiege. Wunderbar! Hinter Bernhardines Stirn fing es an zu pochen.
» Morbleu, was soll denn dieser Höllenlärm?«
In der Tür stand Johannes
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