Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
im Nachtgewand, die Schlafmütze noch auf dem Kopf. Seine Augen waren blutunterlaufen. Der Schlossherr gähnte mit offenem Mund und kratzte sich zwischen den Beinen. Bernhardine roch den Alkoholdunst in seinem Atem und wandte angeekelt den Kopf ab.
»Herr, Désirée ist verschwunden«, jammerte Marie und brach erneut in Tränen aus.
»Was heißt verschwunden?«
Johannes trat ins Zimmer und blinzelte. Er schlurfte durch den Raum und setzte sich ächzend auf den Schemel. Die Amme rutschte erschrocken zur Seite. Ihre Gesichtsfarbe wechselte ins Purpurne, als der Schlossherr ungeniert auf ihre entblößten Brüste starrte.
»Das Püppchen wird sich an irgendeinem Ort verbergen«, sagte er und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, »Kinder tun das alle naselang.« Er gab sich keine Mühe, seine Erektion, die sich unter dem Nachthemd abzeichnete, zu verstecken.
»Ich habe Marie soeben dasselbe gesagt«, wandte sich Bernhardine an ihren Ehemann und raffte den Ausschnitt ihres Morgenmantels am Hals zusammen. Dabei versuchte sie, nicht auf den Schoß ihres Gatten zu blicken. »Ein Streich. Nicht der Rede wert und kein Grund, das ganze Schloss in Aufruhr zu versetzen.«
Marie weinte still vor sich hin und schüttelte den Kopf. »Dédée würde so etwas nicht tun. Niemals, sie …«
»Herrgott noch mal, Marie«, unterbrach Bernhardine ihr Gejammer, »dann geh halt hin und lass nach dem Kind suchen! Aber eins sage ich dir, wenn Désirée nächstens zur Tür hereinkommt, wirst du die Peitsche zu spüren bekommen!«
Marie erbleichte, und die junge Amme stieß einen spitzen Schrei ob dieser Androhung aus.
Bernhardine war selbst erschrocken über ihre harten Worte. Noch nie hatte sie einen der Dienstboten gezüchtigt. Und schon gar nicht Marie! Doch die vergangene Nacht und die Angst vor Entdeckung hatten sie an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht.
»Sehr wohl«, erwiderte Marie tonlos. Sie knickste, und ihre alten Knochen knackten dabei.
Augenblicklich tat Bernhardine ihre unverhältnismäßige Schelte leid. Was war bloß mit ihr los? Sie wandte sich an Marie, um ihr ein paar milde Worte mit auf den Weg zu geben, doch diese hatte das Zimmer bereits verlassen.
Bernhardine atmete tief durch. Sie spürte, dass Johannes sie beobachtete, deshalb trat sie zur Wiege und strich Burkhardt sanft übers Köpfchen. Seine Haut war heiß und trocken, die Wangen gerötet und der dunkelbraune Haarflaum schweißnass. Hatte er sich bei seiner Schwester angesteckt? Kaspar schien es jedoch gut zu gehen. Er war an der Brust der Amme eingeschlafen. Diese legte ihn in die Wiege und knöpfte ihre Bluse zu. Auch Johannes erhob sich und schlurfte zur Tür zurück.
»Gebt mir Bescheid, Madame, wenn ich Euch eine Reitgerte ausleihen soll«, nuschelte er und schnalzte mit der Zunge. Die Amme gluckste, verstummte aber sofort, als Bernhardine ihr einen eisigen Blick zuwarf. »Ansonsten gehe ich jetzt wieder zu Bett. Gehabt Euch wohl.«
Er drehte sich um und zwinkerte dem Mädchen zu, das daraufhin geschäftig Désirées Bettzeug aufschüttelte, um seine Verlegenheit zu kaschieren.
Bernhardine hätte vor Wut am liebsten etwas zerschlagen. Nicht genug, dass Johannes sie mit jedem weiblichen Wesen betrog, das ihm außerhalb des Schlosses über den Weg lief, trieb er es jetzt vermutlich auch noch mit dieser Milchkuh. Kein Wunder, wenn sich das Weibsbild Freiheiten gegenüber der Schlossherrin herausnahm. Sie hatte schon einen scharfen Verweis auf der Zunge, als ihr die vergangene Nacht einfiel. War sie denn besser als ihr hurender Ehemann? Obwohl sie Johannes nicht liebte, war sie ihm immer eine tadellose Ehefrau gewesen. Bis gestern!
Ohne ein weiteres Wort drehte sich Bernhardine auf dem Absatz um und stolperte davon. Beim Gehen fuhr sie sich mit den Fingerspitzen über die Lippen. Sie waren geschwollen. Ein aufkommender Kopfschmerz ließ sie aufstöhnen. Sie musste unbedingt zu Cornelis und ihn bitten, sie so schnell wie möglich aus dem Schloss wegzubringen.
9
Seengen, 2010
H eute nicht.«
Max verabschiedete sich von seinem Ensemble, das schwatzend auf das Restaurant »Burgturm« zusteuerte. Er gesellte sich zu Anouk, die wartend auf der Treppe der Turnhalle saß und ein Grinsen unterdrückte, als sie das verkniffene Gesicht der Bibliothekarin bemerkte. Sie würden vermutlich keine Busenfreundinnen werden.
»Tut mir leid, Max. Ich habe die Zeit vergessen.«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Kein Problem«, sagte er,
Weitere Kostenlose Bücher