Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
verzog den Mund, und Anouk lachte. »Hier.« Er reichte ihr die Flasche, dabei streifte seine Hand ihren Arm. Anouk bekam eine Gänsehaut, und ihr Herzschlag beschleunigte sich.
»Auf liebenswerte, alte Damen!«, rief sie und stieß etwas zu heftig mit ihm an. Max nickte.
»Ich …«, sagten beide gleichzeitig und fingen an zu lachen.
»Also«, ergriff Max das Wort, »mein Laptop steht im Schlafzimmer. Einen Moment.«
Er drehte sich um, stellte sein Bier auf den Tisch und verschwand in den hinteren Bereich der Wohnung. Schlafzimmer? Anouk legte den Kopf schief, konnte von ihrem Standort aus jedoch keinen Blick hineinwerfen. Es hätte sie interessiert, wie er nächtigte und ob eventuell ein Foto auf seinem Nachttisch stand. Aber wieso eigentlich? Was ging es sie an, welche Bilder sich in Max’ Schlafzimmer befanden und wer darauf abgebildet war? Er hatte sein Leben, sie das ihre, und es würde keine Liebesbeziehung zwischen ihnen geben. Freundschaft, ja, dazu war Anouk bereit, aber zu mehr nicht. Hoffentlich war sich Max dessen bewusst.
Sie seufzte und nahm noch einen Schluck. Das Bier rann kühl und prickelnd ihre Kehle hinab. Ob es so eine gute Idee gewesen war, in seine Wohnung zu kommen? Gut möglich, dass Max darin eine Aufforderung zu mehr verstehen würde.
»Unsinn!«, murmelte Anouk halblaut und schüttelte den Kopf. Sie interpretierte schon wieder einmal viel zu viel in eine ganz normale Sache hinein. Schließlich waren sie beide erwachsen und die Sache mit dem Kuss mittlerweile geklärt.
»So«, Max stellte seinen Computer auf den Tisch, »dann wollen wir mal sehen, ob wir Talent zum Detektivspielen haben!«
Er lachte, doch es klang gepresst, als müsste er sich selbst von seinem Scherz überzeugen. Anouk beobachtete ihn nachdenklich, als er das Notebook startete. Warum half er ihr eigentlich so selbstlos? Im Grunde erstaunlich; sie kannten sich ja kaum, und er hatte doch sicher Wichtigeres zu tun, als der Großnichte einer Patientin bei der Aufklärung seltsamer Ereignisse zur Hand zu gehen. Steckte da mehr dahinter? Und wenn ja, was waren seine Motive? Sollte sie ihn einfach fragen? Aber was wäre, wenn ihr seine Antwort nicht gefiele? Anouk beschloss, sich später darüber Gedanken zu machen. Zunächst wollte sie erst einmal wissen, was es mit diesen Versen auf sich hatte. Sie setzte sich neben Max und zog das Skript aus ihrer Handtasche. Anouk hatte ihre Sachen nach dem Krähenangriff zum Glück alle wiedergefunden und einsammeln können. Als sie nach einer Weile die Kirchentür geöffnet und vorsichtig den Kopf hinausgestreckt hatte, war die angriffslustige Krähe verschwunden gewesen.
Sie fanden die Zeilen auf Anhieb. »Auf eben diese Leiche« lautete das Gedicht, das, wie sie schon vermutet hatten, nicht von Huldrich Erismann, sondern von Sidonia Hedwig Zäunemann stammte. Der Dichterin mit dem Lorbeerkranz auf dem Kopf. Geboren siebzehnhundertvierzehn, gestorben siebzehnhundertvierzig.
»Tja. Dann hat der gute Huldrich die Zeilen also tatsächlich geklaut«, sagte Max, lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Für eine Plagiatsanzeige wird es aber vermutlich zu spät sein. Und jetzt?«
Anouk stützte ihren Kopf in die Hand. »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte sie kleinlaut.
Was hatte sie denn erwartet? Dass ein himmlischer Gong erklingen würde, wenn sie wüsste, wer die Zeilen verfasst hatte? Gratuliere, Sie haben gewonnen! Freuen Sie sich auf einen Millionengewinn! Auf einmal kam sie sich ziemlich dumm vor.
Max warf ihr einen schnellen Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf den Interneteintrag.
»Sie ist jung gestorben«, meinte er, kniff die Augen zusammen und starrte auf den Bildschirm. »Von einem Ausritt nicht zurückgekommen. Vermutlich in der Gera ertrunken«, las er vor. »Und du sagst, deine Großtante kann Gedichte nicht ausstehen?«
Anouk nickte. »Ich wüsste wirklich nicht, wieso sie diese Zeilen aufsagen sollte. Außer … aber das ist ein ganz und gar abwegiger Gedanke.«
»Ja?« Max klickte ein paar der Verse an. »Was ist ganz und gar abwegig?«
»Na ja«, druckste sie herum, »dass es vielleicht Julia sein könnte, die mir auf diese Weise eine Botschaft zu übermitteln versucht.«
Sie schaute Max nicht an, während sie sprach, weil sie fürchtete, er würde sie auslachen. Sie konnte einiges ertragen, aber Spott traf sie tief. Doch er überraschte sie erneut.
»Das ist gar keine so dumme Idee«, erwiderte er ernsthaft und
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