Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
»ich habe deine Textstellen gelesen. Wenn du das nächste Mal dabei bist, reicht das völlig. Geht’s denn wieder?«
Sie nickte und beschloss, ihm nichts von der ungewöhnlichen Krähenattacke zu erzählen. »Hast du noch etwas herausgefunden?« Er schulterte seine Mappe, half ihr auf die Füße und steuerte auf seinen Wagen zu.
»Leider nicht«, beantwortete sie seine Frage und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. »Es sind einfach zu viele Gedichte … langweilige Gedichte.« Sie hakte den Sicherheitsgurt ein und rieb sich die eiskalten Hände. Herrgott, fing das schon wieder an? Sie atmete tief durch, um die aufsteigende Angst unter Kontrolle zu bekommen. »Hast du Internet?«, fragte sie unvermittelt und strich sich die Haare zurück. Max warf ihr einen erstaunten Blick zu und legte den ersten Gang ein. Anouk lachte, als sie seinen überraschten Gesichtsausdruck registrierte. »Das ist keine plumpe Anmache, Herr Doktor. Ich denke nur, es würde die Sache erheblich vereinfachen, wenn wir die Zeilen von Huldrich Erismann in eine Suchmaschine eingeben. Vielleicht finden wir dadurch eine Verbindung zwischen ihm und den zwei Dichterinnen. Oder sonst etwas, das uns weiterhilft.«
Max schnalzte mit der Zunge. »Stimmt!«, sagte er, schüttelte den Kopf und steuerte den Wagen auf die Hauptstraße. »Auf die nächstliegende Lösung kommt man immer zuletzt.« Er lachte, doch Anouk bemerkte einen Unterton in seiner Stimme, den sie nicht einzuordnen wusste.
»Ich hoffe, du erwartest kein gestyltes Penthouse«, fuhr er fort. »Ich habe leider kein gutes Händchen, was das Einrichten von Wohnungen angeht.«
Max fuhr am Brestenberg vorbei Richtung Meisterschwanden und bog nach ein paar Kilometern in eine gekieste Auffahrt ein. An deren Ende, erhöht am Hang, thronte ein zweistöckiges Fachwerkhaus, das von Blumenrabatten umgeben war.
»Hübsch«, meinte Anouk und schmunzelte.
»Leider nicht meins«, sagte Max und stieg aus. »Ich bewohne nur das Obergeschoss. Meine Vermieterin wird sich sicher wundern, wenn ich Damenbesuch mitbringe. Normalerweise …« Er brach ab und räusperte sich. Als hätte er das Stichwort gegeben, öffnete sich die Haustür, und eine ältere Dame in einem grauen Hosenanzug trat auf die Veranda. Sie hielt abrupt inne, als sie Max und Anouk bemerkte.
»Et voilà«, seufzte er, »meine Schlummermutter!«
Frau Bolliger war eine rüstige Rentnerin Ende sechzig. Sie lud die Ankömmlinge zu einer Tasse Tee ein und insistierte vehement, als sie höflich ablehnen wollten. Anouk zog amüsiert die Augenbrauen hoch und stupste Max heimlich mit dem Ellenbogen an. Diese Dorfbewohner! Er willigte mit einem gequälten Lächeln ein, sprach aber nach einer Stunde mit viel Tee und trockenen Biskuits ein Machtwort. Beinahe fluchtartig verließen sie daraufhin das Wohnzimmer mit den vielen Häkelarbeiten und dem übergewichtigen Cockerspaniel, der ihnen während der vergangenen Minuten alle seine zerfetzten Plüschtiere zu Füßen gelegt hatte.
Im Gegensatz zu Frau Bolligers vollgestopftem Zuhause waren Max’ Zimmer spartanisch eingerichtet. Im Wohnzimmer standen eine schwarze Sitzgruppe, ein einfacher Holztisch mit dazu passenden Stühlen und eine nüchterne Stehlampe. In einer Ecke befand sich eine moderne Küchenkombination. Die Wände waren kahl, die Fenster ohne Gardinen. Selbst der glänzende Parkettboden musste ohne Teppich auskommen. Anouk schürzte die Lippen. Die Zimmer sahen so aus, als würde ihr Bewohner gleich wieder seine Koffer packen oder als hätte er sie erst gar nicht ausgeräumt. Es gab weder Fotos noch Bilder, weder Blumen noch irgendwelche Nippsachen. Dagegen wirkte Max’ Praxis ja geradezu anheimelnd.
»Etwas zu trinken?«, fragte er und stellte seine Tasche ab.
»Wenn’s nicht noch ein Tee ist, gerne.«
Er lächelte säuerlich, ging zum Kühlschrank und schaute hinein. »Wie wär’s mit einem Bier?«
Anouk nickte. »Kann ich das Fenster öffnen?«
Sie trat zur Balkontür. Der Ausblick auf den Hallwilersee war grandios. Hinter den gegenüberliegenden Hügeln ging gerade die Sonne unter und verwandelte das Wasser in flüssiges Gold. Am Himmel stand bereits die Venus und funkelte, als wäre sie frisch poliert worden.
Max öffnete zwei Flaschen Millers und folgte Anouk, die auf den Balkon hinausgetreten war.
»Tolle Aussicht!«, sagte sie begeistert und stützte sich mit beiden Händen auf das Geländer.
»Deshalb habe ich die Wohnung genommen. Trotz Frau Bolliger.« Er
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