Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
erwischen. Ihr Gepäck könnte sie später abholen lassen. Tati Valerie müsste bis zum Herbst eben ohne sie auskommen.
Anouk stolperte und fiel unsanft auf den Gehsteig. Sie blieb einen Moment benommen auf dem warmen Asphalt liegen, bis sie sich ohne Schwindel wieder hochrappeln konnte. Ihr Knie war aufgeschürft und brannte wie Feuer. Auch das noch! Sie humpelte zur Böschung am Straßenrand und setzte sich ins Gras. Es war frisch gemäht und duftete nach Heu und wildem Thymian. Anouk zog ein Taschentuch aus ihrem Beutel und säuberte damit ihr Knie. Ein Wagen mit heruntergelassenen Fenstern, aus dem wummernde Bässe dröhnten, flitzte an ihr vorbei. Vier Jungs hockten darin und johlten, als sie Anouk erblickten. Sie warfen ihr Luftküsse zu und grinsten blöde. Was war bloß aus ihrer Idee, einen ruhigen Sommer in der beschaulichen Gegend von Seengen zu verbringen, geworden? Anouk vergrub das Gesicht in den Händen. Sie war wirklich zu bedauern und …
»Nein! Nicht mit mir!« Sie stand auf und presste ärgerlich die Lippen aufeinander. Sie war eine Morlot! Und die Morlot-Frauen ließen sich nicht so leicht unterkriegen. Sie hatte schließlich schon Shootings mit Schlangen, Vogelspinnen und Krokodilen überstanden; war schon an einem Seil zwanzig Meter über einem Abgrund gebaumelt, aus einem Flugzeug gesprungen und hatte bei minus fünfzehn Grad Bademode vorgeführt. Und das alles lächelnd und perfekt frisiert. Diese ganzen unerklärlichen Vorkommnisse hatten etwas zu bedeuten. Und dass sie ihr gerade in dieser Phase ihres Lebens passierten, ebenso. Irgendjemand oder irgendetwas versuchte, mit ihr Kontakt aufzunehmen und ihr etwas mitzuteilen, damit sie etwas unternahm. Wenn sie jetzt davonliefe, würde sich die Situation dadurch erstens nicht verändern und sie sich zweitens wahrscheinlich ihr ganzes späteres Leben lang fragen, wieso sie nicht den Mut aufgebracht hatte, sich dieser Herausforderung zu stellen. Anouk straffte ihre Schultern und hob, als sich ein weiteres Auto näherte, entschlossen den Daumen.
Schloss Hallwyl, 1746
Die Wanduhr machte Bernhardine wahnsinnig: tick-tack, tick-tack, Dir-ne, Dir-ne! Am liebsten hätte sie den Zeitmesser von der Wand gerissen und ins Feuer geworfen. Jedes noch so kleine Geräusch zerrte an ihren Nerven. Die Dielenbretter knarrten gehässig, der Wind rüttelte wütend an den Fensterläden, und die Holzscheite im Kamin knackten anklagend. Sie hielt sich die Ohren zu. Zum hundertsten Mal stand sie auf, strich sich das Kleid glatt und trat ans Fenster. Nichts. Der Schlosshof lag verlassen unter einer schmutzig grauen Schneedecke.
Es hatte die ganze Nacht geschneit. Der Tumult der vergangenen Stunden und die vielen hastigen Füße, die über den Hof gelaufen waren, hatten die weiße Pracht in hässlichen, braunen Matsch verwandelt. Über dem See ballten sich neue Schneewolken. Es war noch kälter geworden. Selbst die Krähen hockten wie schwarze Eiszapfen in den kahlen Bäumen und hielten die Schnäbel. Die ganze Welt war erstarrt. Herrgott, warum kam denn keiner, um ihr zu berichten?
Bernhardine hielt es nicht länger in ihrem Boudoir aus. Sie griff nach einem wollenen Schultertuch und stolperte die Treppe hinunter. In der Vorhalle traf sie auf zwei Mägde, die bei ihrem Anblick abrupt verstummten.
»Was habt ihr so zu gaffen? Bewegt euch lieber und schafft etwas!«
Die Mädchen stoben davon. Bernhardine strich sich müde über die Stirn. Seit den frühen Morgenstunden befand sich das ganze Schloss in Aufruhr. Die Bediensteten hatten jeden Winkel nach Désirée abgesucht – von ihrer Tochter keine Spur. Jetzt ging es bereits auf Mittag zu. Normalerweise war dies die geschäftigste Tageszeit in der Burg. Doch ein Blick aus dem Fenster bestätigte ihre Ahnung; selbst die Küche war verwaist. Der rußgeschwärzte Schornstein stieß keinen Rauch aus.
Mit Fackeln hatten sich Johannes und die Knechte bei Tagesanbruch aufgemacht, um den Schlossgraben und die nähere Umgebung abzusuchen. Seitdem wartete Bernhardine auf die Nachricht, dass man das Kind wohlbehalten gefunden hätte. In der Scheune, dem Kornhaus oder vielleicht sogar im Verlies.
Sie fasste sich an die Kehle. Das Verlies! Wenn Désirée dort … Aber nein, Johannes hatte das Schandloch erst letzten Sommer mit einem schweren Gitter sichern lassen. Und ihre Tochter würde nicht dorthin gehen. Sie war so ein artiges Mädchen, das brav seinen Brei aß, mit seiner hübschen poupée spielte und immer
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